Interview mit Egon Krenz : "Also, dann hoch
mit den Schlagbäumen!"
von Henrik Pomeranz
"Die Mehrheit der
Bürger der
Der letzte
Staatsratsvorsitzende der
Herr Krenz, Sie wollten
weder den Mauerfall, wie er letztlich kam, noch die Wiedervereinigung. Wenn Sie auf die deutsche
Geschichte seitdem schauen, wofür können Sie dennoch dankbar sein?
Das Entscheidende an der
deutschen Einheit ist für mich, dass uns die Last genommen wurde, dass in einem
Krieg Deutsche gegen Deutsche hätten kämpfen müssen.
Sie hatten die
Maueröffnung damals zwar beschlossen, wurden von den Ereignissen aber am Ende
überrumpelt.
Wir haben nicht die
„Maueröffnung“ beschlossen, sondern eine neue Reiseverordnung
Dass durch einen Versprecher Schabowskis daraus eine unkontrollierte Grenzöffnung wurde, war keine
Meisterleistung. Wenn es im Zusammenhang mit dem 9. November etwas gibt,
worüber sich nicht nur
Und Ihres als deren
Staatsoberhaupt?
Ich trug in jener Nacht
die Gesamtverantwortung. Eine falsche Entscheidung von mir hätte zu einer
Katastrophe führen können. Es gab von mir den Befehl 11/89 vom 3. November
1989. Der besagte, dass es beim Eindringen ins Grenzgebiet strengstens verboten
ist, die Schusswaffen einzusetzen. Nach dem Gesetz hätte ich das eigentlich gar
nicht befehlen dürfen, weil ich damit einen Beschluss der Volkskammer zum
Schutz der Grenzen außer Kraft gesetzt hatte.
Wieso kamen Sie gerade
am 3. November auf diese Idee?
Am 1. November war ich
in Moskau bei Michail Gorbatschow. Bei einem Mittagessen im Kreml kam der Chef des KGB, Krjutschkow, zu mir.
Sein Dienst habe Informationen, sagte er, dass sich von der Demonstration auf
dem Alexanderplatz am 4. November eine Gruppe abspalten würde, die in Richtung
Brandenburger Tor marschiere, um dort die Grenze gewaltsam zu überwinden. Das
hat mich natürlich sehr beunruhigt, denn eine solche Aktion hätte Blutvergießen
bedeuten können. Da habe ich diesen Befehl erlassen. Der galt nicht nur für
diesen Tag, sondern auch am 9. November. Dass an dem Abend nicht geschossen
wurde, war also befehlsmäßig gesichert. „Keine Gewalt!“ stand nicht nur auf den
Schärpen der Demonstranten am 4. November, sondern war auch unsere
Handlungsmaxime.
Als Schabowski am 9.
November zu der Pressekonferenz aufbrechen wollte, sagten Sie ihm, er solle die
neue Regelung verkünden, die Reisen in den Westen ermöglichen sollte. Mit
welcher Hoffnung schickten Sie ihn dorthin?
Ich dachte, dass der
Beschluss in dieser komplizierten Situation helfen könnte, die Forderungen der
Und wurde zum vielleicht
berühmtesten Missverständnis in der deutschen Geschichte.
Ich habe ihm mein Exemplar des
Regierungsbeschlusses mitgegeben, der enthielt als Anlage eine
Pressemitteilung, die am nächsten Tag, dem 10. November, um 4 Uhr früh
veröffentlicht werden sollte. Und der letzte Satz dieser Pressemitteilung
lautete: „Diese Verordnung tritt ab sofort in Kraft.“ Er hätte also bei der
Pressekonferenz sagen müssen: „Dieser Beschluss tritt morgen in Kraft.“ Er hat
aber vorgelesen, was in der Pressemitteilung für den 10. November stand.
Woher konnte er das denn
wissen, hatten Sie es ihm gesagt?
Er hat doch den
Beschluss selbst mitgefasst. Selbst wenn es stimmen sollte, dass er nicht im
Raum war, als ich den Text im Zentralkomitee vorgelesen habe, bleibt, dass er
dem Beschluss zuvor in der Sitzung des Politbüros zugestimmt hatte. Er war also
genau im Bilde. Es war reine Schussligkeit, mit der er uns in eine äußerst
gefährliche Situation gebracht hatte. Allerdings widerspreche ich denen, die
meinen, er habe dies absichtlich getan. Dafür habe ich keinerlei Anzeichen. Er
war damals ein äußerst disziplinierter Parteisoldat.
Nachdem Schabowski die
Reiseregelung verkündet hatte und die
Als die Tagung vorbei
war, dauerte es vielleicht noch eine Viertelstunde, da war Erich Mielke, der Staatssicherheitsminister der
Zu der Zeit waren aber
einige Grenzübergänge schon geöffnet.
Die Offiziere dort haben
auch ohne Anweisung von oben das Richtige getan. Nachdem ARD und ZDF berichtet hatten,
die Grenze sei offen, kamen die Massen. Damals haben weder der amerikanische
Präsident noch Bundeskanzler Kohl von einem „Sturm auf die Mauer“ oder vom
„Mauerfall“ gesprochen. Sondern schlicht von einer „Grenzöffnung“. Alles andere
sind nachträglich eingeführte ideologisch aufgeladene Begriffe.
Was haben Sie zu
Schabowski gesagt, als Sie ihn das nächste Mal gesehen haben?
Ich war nicht sehr
erfreut darüber, aber wir haben die Sache nicht besonders hochgezogen. Wir
mussten mit der neuen Lage umgehen. Zu keinem Zeitpunkt habe ich daran gedacht,
alles wieder zurückzudrehen.
Am 9. und 16. Oktober,
als bei den Montagsdemonstrationen Zehntausende auf die Straße gingen,
fürchteten viele, dass es zum Blutvergießen kommt. Wie wichtig war für den
friedlichen Ausgang des 9. November, dass zuvor schon in Leipzig alles
gutgegangen war?
Sicherlich gab es da
einen Zusammenhang, das waren komplexe gesellschaftliche Vorgänge, keine simple
Kausalkette der Art: Weil es in Leipzig friedlich blieb, wurde auch am 9.
November in Berlin nicht geschossen. Doch ich will auch hier noch einmal sagen,
dass ich am 9. Oktober in Leipzig nicht ein Transparent gesehen habe, auf dem
gestanden hätte: „Weg mit der
Honecker wollte Stärke
zeigen. Er hat Gedanken dazu geäußert, Panzer durch die Stadt fahren zu lassen
und Absperrungen zu errichten. Durch solche Provokationen hätte die Lage
eskalieren können.
Aber nichts von dem ist
verwirklicht worden. Jahre später hat Bundespräsident Köhler behauptet: „Vor
der Stadt standen Panzer, die Bezirkspolizei hatte Anweisung, auf Befehl ohne
Rücksicht zu schießen. Die Herzchirurgen der Karl-Marx-Universität wurden in
der Behandlung von Schusswunden unterwiesen, und in der Leipziger Stadthalle
wurden Blutplasma und Leichensäcke bereitgelegt.“ Ich kann auf meinen Eid
nehmen, dass nichts davon stimmt.
Aber trotzdem haben Sie
im Politbüro offen und hinter seinem Rücken gegen Honeckers Linie gewirkt, oder
nicht?
Ich habe nicht „gegen
seine Linie gewirkt“, sondern registriert, dass er aus verschiedenen Gründen,
auch aus gesundheitlichen, nicht mehr den Aufgaben gewachsen war, die er in
seinen Funktionen zu lösen hatte. Diese Beobachtung machte ich nicht erst im
Oktober, sondern schon seit 1987. Ich war nicht der Einzige im Politbüro, der
dies bemerkte. Ich habe aber viel zu spät die Auseinandersetzung mit ihm
gesucht.
Wie haben Sie versucht,
die Situation zu beeinflussen?
Am Morgen des 9. Oktober
kam der Direktor des Instituts für Jugendforschung aus Leipzig zu mir,
Professor Walter Friedrich. Er war erregt, wie ich ihn noch nie erlebt hatte.
Heute Abend darf kein Blut fließen, sagte er. Ich fragte: Wieso, woher weißt
du, dass das passieren soll? Die Journalisten würden das meinen, entgegnete er.
Da war natürlich viel Propaganda aus der alten Bundesrepublik dabei. Es wurden
Gerüchte gestreut, und die verbreiteten sich schnell. Ich habe ihm versichert:
Es wird keine Gewalt geben! Mit dieser Zusage ist er nach Leipzig
zurückgekehrt.
Wie konnten Sie so
sicher sein, dass es staatlicherseits auch tatsächlich gewaltfrei bleiben
würde?
Das haben wir schon am
frühen Morgen des 8. Oktober bei einer Zusammenkunft im Kreise der höchsten
Vertreter aller für die Sicherheit der
In vielen Städten waren
Demonstrationen unter massivem Knüppeleinsatz der Polizei aufgelöst worden.
Auch deshalb fürchteten viele, dass es am 9. Oktober in Leipzig zum
Gewaltausbruch kommen würde.
So war es wohl. Und
deshalb musste jede Wiederholung verhindert werden. Deshalb hatte ich eine
Erklärung für das Politbüro vorbereitet, die ich den Generalen bei jener
Beratung vortrug. Die Botschaft lautete: Politisch entstandene Probleme dürfen
nur politisch und nicht mit Gewalt gelöst werden! Ich war gleichermaßen
erstaunt und beruhigt, dass diese so sachliche Truppe am Ende klatschte. Das
war im Rückblick einer der entscheidenden Momente im Herbst ’89: Die
Verantwortlichen aller Schutz- und Sicherheitsorgane hatten sich zur
Gewaltlosigkeit bekannt.
War auch Honecker dabei?
Nein, Honecker war
dagegen, dass diese Erklärung im Politbüro behandelt würde. Und dass ich sie
dann gegen seinen Willen vorgelegt habe, hat auch dazu geführt, dass sich
unsere Wege trennten.
Sie haben dann die
Absetzung Honeckers vorangetrieben. Wie war es für Sie, ihn zu stürzen?
Das war für mich eine
emotional sehr schwere, aber auch notwendige Entscheidung. Es ist für mich kein
Thema mehr, das ist inzwischen abgeschlossen.
Weil er Ihr Freund und
Mentor war?
Ja, das kann man
durchaus sagen – über viele Jahre. Und es gab ja auch gute Gründe dafür, dass
ich ihn geschätzt habe. Honecker hat für seine Überzeugung zehn Jahre bei den
Nazis im Zuchthaus gesessen. Als er Staatsoberhaupt der
Juni 1979: Krenz an der
Seite von Erich Honecker : Bild: dpa
Aber das sind alles alte
Verdienste, die man nicht aufrechnen kann in einer Situation, in der es darum
geht, dass jemand in der Führung eines Staates nicht mehr tragbar ist.
Ich muss doch
anerkennen, dass Honecker fast zwanzig Jahre lang an der Spitze des Staates und
der Partei stand. Und was er in dieser Zeit an Positivem geschaffen hat, kann
ich nicht ignorieren und einfach beiseitelegen. Das kann ich nicht streichen,
wenn ich über Honecker rede ... Ich habe ihn gestürzt, jawohl! Weil ich der
Meinung war, dass die Gefahr, wenn er bliebe, durch Nichtstun größer würde, als
wenn wir verändern.
Sie haben die Mauer
geöffnet. Trotzdem wird etwa Michail Gorbatschow von vielen Deutschen sehr
verehrt, während Sie öffentlich eher im Abseits stehen. Warum, glauben Sie, ist
das so?
Das müssen Sie die Leute
fragen, die diese unterschiedlichen Bilder verbreiten. Aber ich kann überall
auf die Straße gehen. Unlängst stellte ich in Berlin mein Buch „Wir und die
Russen“ vor. Zu dieser Veranstaltung kamen mehr als fünfhundert Menschen. So
abseits, wie Sie meinen, stehe ich nicht. Mich besuchen sehr viele Leute, ich
nehme an Veranstaltungen teil, in der Öffentlichkeit werde ich erkannt, viele
suchen das Gespräch mit mir, ich erhalte so viel Post, dass ich Mühe habe, alle
Briefe zu beantworten. Dieser Tage kam ein Brief aus Indonesien mit der
Adresse: Egon Krenz, Deutschland. Die Post kam an. Das fand ich bemerkenswert.
Enkel bitten mich bei Jubiläen ihrer Omas und Opas Grüße zu übermitteln – was
ich dann auch gern tue. Probleme mit mir haben eher manche Medien. Das
öffentliche Bild von mir wurde schon bevor ich an die Spitze der
Was meinen Sie damit?
Es gab im Frühsommer
1989 eine Einschätzung der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik bei der
Also damit, Proteste wie
in Peking mit Gewalt niederzuschlagen.
Es wurde ein Image
kreiert, das die Menschen das Fürchten lehren sollte. Die elektronischen Medien
der Bundesrepublik wurden in der
Die Angst, dass Sie als
Antwort auf die Demonstrationen Gewalt befürworten könnten, kam durch ein
Interview auf, in dem Sie sagten, in China sei „etwas getan worden, um die
Ordnung wiederherzustellen“. Das konnte man als Verteidigung Chinas verstehen.
Meine Grundtendenz in
diesem Interview war: Wenn es in China Bürgerkrieg gibt, dann ist das eine
Sicherheitsfrage für die ganze Welt. Ein Fünftel der Menschheit, so viele Menschen
waren nicht einmal im Zweiten Weltkrieg involviert! Aber das Thema wurde
letztlich juristisch aus der Welt geschafft. Das Landgericht Hannover
untersagte unter Androhung einer Strafe der ehemaligen
Vielleicht hängt die
Meinung vieler über Sie ja auch damit zusammen, dass Sie Kommunist geblieben
sind und deswegen als unbelehrbar gelten – im Gegensatz zu einstigen
Weggefährten wie Günter Schabowski.
Das ist bei der
antikommunistischen Grundstimmung, die es in der Bundesrepublik gibt, durchaus
denkbar. Aber: Was würden Sie wohl von mir halten, wenn ich mich als ehemaliges
Staatsoberhaupt der
Aber sicher hilft heute
auch nicht, dass Sie viele Ungerechtigkeiten der
Woher wollen Sie das wissen? Sie
kennen mich doch gar nicht. Journalisten kommen zu mir meist mit fester Meinung,
die sie aus Beiträgen anderer gewonnen haben, sie wollen eigentlich nur noch
die Bestätigung ihrer und der umlaufenden Vorurteile. In der Berichterstattung
über meine erwähnte Berliner Buchpremiere war jedoch erkennbar, dass sich da
etwas zu verändern beginnt. Richtig böse, gehässige Beiträge, wie ich sie seit
dreißig Jahren gewohnt bin, waren kaum noch dabei. Journalisten in den USA,
Großbritannien, China, Russland beurteilten mich und meine Haltung schon immer
seriöser, auch diesmal, nun also finde ich dieses sachliche Herangehen auch in
hiesigen Medien. Ich sehe die
Das Spitzelsystem, das
Abhören, dass Systemkritiker vernommen und ins Gefängnis gesteckt wurden: Sehen
Sie nicht, dass das problematisch war?
Wissen Sie, die
Was für Akten?
Die der
Aber Herr Krenz, Sie
waren das Staatsoberhaupt, und es war ein verfeindetes Land, das Sie da
ausspioniert hat und nicht das eigene!
Da urteilen Sie aber
sehr nachsichtig. Natürlich haben Sie recht: Der Kalte Krieg war auch der Krieg
der Nachrichtendienste. Mich stört nur das ungleiche Maß der Beurteilung: Das,
was die
Sie scheinen sich ein
bisschen als oberster Advokat des Bildes von der
Ein Advokat bin ich nie
gewesen, aber ich stemme mich gegen Unterstellungen, Verleumdungen und Lügen.
Die
Wie sehen Sie das
Verhältnis zwischen Deutschland und Russland heute?
Ich halte es da mit
Bismarck, der – so hat es uns seine Enkelin in einem Brief am 25. Januar 1947
überliefert – noch auf dem Sterbebett wiederholt hat: „Nie gegen Russland.“ Ein
gutes Verhältnis zu den Russen ist eine Schicksalsfrage für die Deutschen. Wer
es nicht versteht, dass es auch eine Frage der Vernunft ist, mit Russland
zusammenzustehen, der verstößt gegen elementare deutsche Interessen. Die
Mehrheit der Bürger der
An der Bundesrepublik
haben Sie viel zu kritisieren. Können Sie dem Leben hier auch was Gutes
abgewinnen?
Ich bin kein Ignorant,
ich weiß, dass vieles im Osten Deutschlands besser geworden ist. Dass es etwa
wunderbare Initiativen gegeben hat, die Innenstädte zu gestalten. Nur es ist
alles immer so widersprüchlich: Ich sehe die Schönheit der Innenstädte, die wir
leider nicht hatten. Aber ich sehe auch, dass es für normale Menschen schwer
ist, dort die Miete zu bezahlen. Ich bewundere das vielfältige Warenangebot und
ärgere mich über die Schlangen bei den Tafeln. Ich freue mich, wenn es heißt,
dass es Deutschland gutgeht. Aber ich weiß, dass das eben noch lange nicht bei
jedem Deutschen ankommt.
Was wünschen Sie
Deutschland für die Zukunft?
Dass es nazifrei wird
und bleibt. Dass es normale Beziehungen zu Russland bekommt. Dass die Eltern
und Großeltern wieder die Zuversicht haben, dass es ihren Kindern einmal
bessergeht – und nicht das Gegenteil befürchten. Und natürlich auch, dass man
zu mehr Ehrlichkeit findet in der Bewertung der
Quellen:
https://www.youtube.com/watch?v=-Wa2ZbaYt8A