IMI-Analyse 2020/18 zum Bundeswehreinsatz im Inneren

An der Grenze der Verfassung und darüber hinaus

Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldat*innen für Corona-Einsatz im Inland

von: Martin Kirsch | Veröffentlicht am: 30. März 2020

In den letzten zwei Wochen liefen die Vorbereitungen für einen großen
Inlandseinsatz der Bundeswehr in kleinen Schritten. Am 14. März forderte
Bayerns Ministerpräsident Söder einen flächendeckenden Inlandseinsatz
der Bundeswehr. In der Bundespressekonferenz am 19. März präsentierte
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer die Strategie der Bundeswehr
für ihren Einsatz gegen die Corona-Pandemie. Dabei brachte sie auch den
Einsatz von Soldat*innen für den Objektschutz von Kritischer
Infrastruktur in Deutschland ins Gespräch. Generalinspekteur Zorn
beschwichtigte, indem er behauptete, die Bundeswehr werde keine
Ausgangssperren überwachen, oder „Corona-Partys“ auflösen. Durch einen
Bericht der Stuttgarter Zeitung am 26. März wurde bekannt, dass das
Innenministerium von Baden-Württemberg mit der Bundeswehr im Gespräch
ist, ob nicht Soldat*innen, die wegen hohen Krankenstands geschwächte
Polizei unterstützen könnten. Damit stehen auch gemeinsame Patrouillen
von Polizist*innen und bewaffneten Soldat*innen in der Öffentlichkeit im
Raum. Am 27. März übertraf ein Bericht des Spiegels dann alle
Befürchtungen: Die Bundeswehr macht mobil.

Auf welcher Rechtsgrundlage die geplanten Einsätze stehen sollen, ist
bisher vollkommen unklar. Zu dieser elementaren Frage findet sich auch
in Statements und Interviews aus Verteidigungsministerium und
Bundesregierung momentan nichts. Auf die Frage: „Steht die Bundeswehr
dann auch bereit, Straßensperren zu errichten, Ausgehverbote
durchzusetzen, notfalls mit Waffengewalt?“, antwortete
Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer in einem Interview mit der FAZ
am 28. März – also nach Bekanntwerden der Mobilmachung – mit einem
relativierenden Statement: „Nein, ich kann mir das, so wie sie es
schildern, nicht vorstellen. Das gibt die Rechtslage in Deutschland
nicht her“. Die zentrale Frage, was die auch für „Absicherung“,
„Schutz“, „Ordnungs-“ und „Verkehrsdienst“[1] in Bereitschaft stehenden
Soldat*innen, mit welchen Rechten gegenüber der Bevölkerung allerdings
tun sollen, wurde nicht gestellt.

Mobilisierung für den Inlandseinsatz

Laut Spiegel sollen bis zum 3. April – über die bereits arbeitenden
Strukturen des Sanitätsdiensts der Bundeswehr hinaus – 15.000
Soldat*innen für den Einsatz im Inland bereitstehen. Nach aktuellen
Plänen sind 6.000 Soldat*innen für die nicht weiter definierte
„Unterstützung der Bevölkerung“, 2.500 Logistiksoldat*innen mit 500
Lastwagen für „Lagerung, Transport, Umschlag“ und 18
Dekontaminationsgruppen mit etwa 250 Soldat*innen der ABC-Abwehr für
Desinfektionsaufgaben vorgesehen. Darüber hinaus sollen allerdings auch
über 6.000 Soldat*innen, 5.500 für „Absicherung/Schutz“ und 600
Militärpolizist*innen der Feldjäger für „Ordnungs-/Verkehrsdienst“
einsatzbereit gemacht werden.

Um diesen, in der bisherigen Geschichte der BRD nicht gekannten
Großeinsatz der Bundeswehr zu führen, werden Generalleutnant Martin
Schelleis, dem Nationalen Territorialen Befehlshaber der Bundeswehr,
vier regionale Stäbe unterstellt. Dabei handelt es sich allerdings nicht
um die bisher in Katastropheneinsätzen, wie bei Hochwasser und extremen
Schneefällen, erprobten Strukturen der
Zivil-Militärischen-Zusammenarbeit. Stattdessen werden die
Führungsstrukturen der Kampftruppen der Bundeswehr aktuell als regionale
militärische Führungsstrukturen vorbereitet.

So soll das Marinekommando in Rostock für Mecklenburg-Vorpommern,
Schleswig-Holstein und Hamburg und das Luftwaffen-Kommando in Berlin für
Berlin und Brandenburg zuständig sein. Die 1. Panzerdivision des Heeres
in Oldenburg soll die Soldat*innen in Bremen, Niedersachsen,
Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen führen und die 10. Panzerdivision
im bayerischen Veitshöchheim das Kommando für Bayern, Baden-Württemberg,
Sachsen, Thüringen, Hessen, Rheinland-Pfalz und das Saarland übernehmen.
Abgesehen von 250 Soldat*innen der ABC-Abwehr und 600 Feldjäger*innen,
die weiter unter dem Kommando der Streitkräftebasis und damit im
direkten Einfluss von General Schelleis stehen sollen, ist geplant, die
weiteren über 14.000 Soldat*innen den vier Regionalstäben zu
unterstellen.[2]

Die Bereitschaft von knapp 9.000 Soldat*innen für „Unterstützung der
Bevölkerung“, Logistik und ABC-Abwehr lässt sich, unabhängig von
weiterer Kritik daran, mit dem Artikel 35 des Grundgesetzes (Amts- und
Katastrophenhilfe) juristisch problemlos rechtfertigen. An die Grenzen
des Grundgesetzes und darüber hinaus geht der geplante Einsatz von über
6.000 Soldat*innen und Feldjäger*innen für Polizei(ähnliche) exekutive
Aufgaben im Inland.

Mit welchem Recht?

Seit den Notstandsgesetzen von 1968, die den Inlandseinsatz der
Bundeswehr juristisch überhaupt erst ermöglichten, galt die gängige
politische und juristische Interpretation, dass nur zwei Paragraphen im
Grundgesetz den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben
innerhalb Deutschlands ermöglichen würden.[3] Gegen massive Kritik von
Gewerkschaften, Kirchen, Student*innen, Bürgerrechtler*innen und
Antifaschist*innen bis hin zu Polizeigewerkschaftlern von der Großen
Koalition 1968 durchgesetzt, handelt es sich dabei um den Artikel 87a,
Abs. 4 GG, den sogenannten Inneren Notstand. Dieser greift
ausschließlich, wenn der Bund, ein Land oder die Verfassungsordnung als
solche, durch militärisch organisierte und bewaffnete Aufstände bedroht
wären. Erst wenn in einem solchen Fall die Polizeikräfte zu deren
Bekämpfung nicht ausreichen würden, dürfte die Bundeswehr eingesetzt
werden, um „beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung
organisierter und militärisch bewaffneter Aufständischer“ eingesetzt zu
werden.

Die zweite Option wäre der Spannungs- und Verteidigungsfall nach Artikel
115a GG, also der Moment, in dem die Bundesregierung die
Kriegsvorbereitung oder den Kriegseintritt Deutschlands erklärt. Erst
dann wäre nach Artikel 87a, Abs. 3 GG ein Einsatz der Bundeswehr
möglich, um im Inland „zivile Objekte zu schützen und Aufgaben der
Verkehrsregelung wahrzunehmen“, wenn diese dem Verteidigungsauftrag
dienen. Darüber hinaus wäre es möglich, in Kooperation mit zivilen
Behörden, „zivile Objekte [zu] schützen“, um damit polizeiliche
Maßnahmen zu unterstützen.

Beide Optionen sind damit für den aktuellen Fall einer Pandemie
offensichtlich ausgeschlossen.

Lange galt es als gesetzt, dass die im Grundgesetzartikel 35, Abs. 1
geregelte Option der Amtshilfe ausschließlich für technische und
logistische Unterstützung gilt. Auch in aktuellen Veröffentlichungen
vertritt die Bundeswehr selbst diesen Standpunkt: „Zusätzliche
hoheitliche Eingriffsbefugnisse ergeben sich dabei für die Bundeswehr
nicht. Es handelt sich nur um sogenannte ‚technische‘ Unterstützung.“[4]
Ähnliches galt nahezu uneingeschränkt bis 2012 auch für die
Katastrophenhilfe (bzw. Katastrophennotstand) in Artikel 35, Abs. 2 und
3. Danach kann die Bundeswehr bei Naturkatastrophen (z.B. Flut, extremer
Schneefall, großer Waldbrand) und besonders schweren Unglücksfällen
(z.B. Zugunglück, Chemie-, oder Reaktorunfall) in der Form Hilfe
leisten, wie sie auch der zivile Katastrophenschutz (Feuerwehr, THW und
Rettungsdienste) leisten würde. Damit schien klar, dass polizeiliche
Aufgaben für die Bundeswehr in diesem Rahmen inakzeptabel wären. Als
einzige Ausnahme im Rahmen der Katastrophenhilfe galt das Regeln des
Verkehrs und das aussprechen von Platzverweisen durch Soldat*innen, um
beispielsweise einen Hilfstransport an den vorgesehenen Ort zu bringen,
oder einen Damm sichern zu können.[5]

Nimmt man den Text der Verfassung beim Wort, wird nicht ohne Grund der
Schutz ziviler Objekte durch die Bundeswehr in Artikel 87a GG explizit
erwähnt, in Artikel 35 GG allerdings nicht.

Auf Grundlage dieser gängigen Auslegung des Grundgesetzes drängen einige
Akteure in der CDU/CSU, darunter Wolfgang Schäuble, seit 1993/94 auf
eine Änderung des Grundgesetzes, um den Spielraum der Bundeswehr im
Inneren zu erweitern.[6] Neuen Aufwind bekam diese Debatte im Rahmen der
Terror-Hysterie seit dem 11. September 2001. Gepaart mit rassistischen
Motiven nutzte Schäuble auch die Silvesternacht in Köln 2015/16, um die
Debatte zu befeuern.[7] Zuletzt scheiterte die damalige
Verteidigungsministerin, Ursula von der Leyen, an den Gegenstimmen des
Koalitionspartners SPD, die Option auf einen Verfassungsänderung zur
Erweiterung der Befugnisse der Bundeswehr im Inland, im Weißbuch von
2016 zu platzieren.

Umkämpfter Grundgesetzparagraph 35

Weil sich in den letzten gut 25 Jahren keine parlamentarischen
Mehrheiten für eine Änderung des Grundgesetzes gefunden haben, wurde die
grundlegende politische Frage über den Einsatz der Bundeswehr für
polizeiliche Aufgaben im Inland zunehmend in das Feld der juristischen
Interpretationen verlagert. Im Fokus dieser Auseinandersetzungen steht
der Grundgesetzartikel 35 (Amts- und Katastrophenhilfe). Seit der
Aufstellung der Strukturen für Zivil-Militärische-Zusammenarbeit
innerhalb der Bundeswehr 2006/07 stieg die Nutzung des
Amtshilfeparagraphen für Aktivitäten der Bundeswehr im Inland massiv
an.[8] Neben der Bereitstellung von Zelten bis hin zu Schwimmbrücken bei
zivilen Großveranstaltung oder der Unterbringung und Versorgung von
Geflüchteten sowie der Bearbeitung von Asylanträgen 2015, gehören seit
Jahren auch Unterstützungsleistungen für die Polizei dazu. Dabei handelt
es sich um die Bereitstellung von Parkplätzen, Unterkünften und
Verpflegung bei Großeinsätzen, aber auch die Nutzung von
Trainingseinrichtungen des Militärs bis hin zur Bereitstellung von
Überwachungstechnik und weiterem Material, samt Personal, für die
Polizei im Rahmen von Gipfelereignissen (G8, G7, G20) – nicht aber, um
den Einsatz von Soldat*innen für polizeiliche Aufgaben.

Ein elementarer Bruch in der Auslegung des Artikels 35 GG fand 2012 in
Karlsruhe statt.[9] Das Verfassungsgericht urteilte – wegen
Unstimmigkeiten unter den Richter*innen erst das vierte Mal in der
Geschichte der BRD mit beiden Kammern gemeinsam – über das 2005
geänderte Luftsicherheitsgesetz. Darin war vorgesehen, von
Terrorist*innen entführte zivile Flugzeuge abschießen zu dürfen. Zwar
wurde der Abschuss von Flugzeugen als klar verfassungswidrig eingestuft,
in der Urteilsbegründung aber ein Hintertürchen für bewaffnete Einsätze
der Bundeswehr im Inland geöffnet. So entschieden die Richter*innen mit
15 zu einer Stimme, dass bei Terroranschlägen „katastrophischen
Ausmaßes“, unter weiteren Einschränkungen, auch militärisch bewaffnete
Soldat*innen gegen Terrorist*innen – als Ursache der Katastrophe –
eingesetzt werden dürften.[10] In einer lesenswerten Erklärung, die im
Urteilstext von 2012 enthalten ist, begründet Verfassungsrichter
Reinhard Gaier seine Ablehnung. Darin argumentiert er, dass er diese
Auslegung als Verfassungsänderung per Gerichtsbeschluss sehe, die dem
Wortlaut und dem historisch begründeten Sinngehalt des Grundgesetzes
widersprächen.[11]

Nach Informationen des Fachjournalisten Thomas Wiegold scheint sich die
Bundeswehr auch für die aktuellen Ereignisse die Option offen zu halten,
im Sinne des 2012er Urteils, in besonderen Ausnahmefällen und nach
Freigabe der Verteidigungsministerin auch „spezifisch militärischer
Waffen“ einzusetzen.[12]

Noch einfacher als das Verfassungsgericht machte es sich der
Wissenschaftliche Dienst des Bundestages 2016 mit seiner Stellungnahme
zur „Übernahme von hoheitlichen Aufgaben der Polizei durch die
Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe“.[13] Darin wird die einfache
Gleichung aufgestellt, dass bei einer rechtlich zulässigen Amtshilfe der
Bundeswehr für die Polizei auch die Armee als staatliche Behörde alle
Mittel einsetzen dürfe, die der Polizei rechtlich zur Verfügung stehen:
„Folglich darf danach die Bundeswehr, wenn sie der Polizei allgemeine
Amtshilfe leistet, auch hoheitliche Maßnahmen übernehmen, jedoch nur
solche, die auch die Polizei zulässigerweise durchführen dürfte.
Militärische Mittel darf sie somit nicht einsetzen.“

Für diese Stellungnahme stützen sich die Jurist*innen des Bundestags
maßgeblich auf einen 2015 veröffentlichten Grundgesetzkommentar, der von
Horst Dreier, einem Würzburger Jura-Professor, herausgegeben wurde.
Dreier gilt laut Spiegel als Pragmatiker, der „offen für neue
Denkansätze – etwa im Bereich der Terrorbekämpfung“ sei. Er wurde 2008
von der SPD als künftiger Verfassungsrichter und potenzieller
Vizepräsident des Verfassungsgerichts nominiert. Nach massiver
Kritik[14] an seiner Rechtfertigung der sogenannten „Rettungsfolter“
(tickende Bombe) in einem Grundgesetzkommentar von 2004 wurde seine
Nominierung allerdings zurückgezogen.

An diesen zwei Beispielen wird deutlich, dass in den letzten zehn Jahren
eine massive Auseinandersetzung um die Auslegung des
Grundgesetzparagraphen 35 stattfindet, in der immer wieder eine
Uminterpretation zugunsten eines erweiterten Inlandseinsatzes der
Bundeswehr vorgenommen wird. Auf welche dieser relativ neuen
Interpretationen des Artikels 35 sich die Bundeswehr für die aktuell
geplante Unterstützung der Polizei vorerst berufen will, bleibt offen.

Im „Notfall“ auch gegen die Verfassung

Der erste Einsatz der Bundeswehr im Inland fand 1962 im Rahmen der
Sturmflut in Hamburg statt.[15] Der damalige Hamburger Innensenator und
spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt mobilisierte die Bundeswehr damals
nicht nur um vom Wasser eingeschlossene Personen zu versorgen oder sie
mit Bundeswehr-Hubschraubern zu evakuieren. Auch den Verkehr lenken und
gegen Plünderer vorgehen sollten die Soldat*innen. Damals gab es
keinerlei Rechtsgrundlage für diesen Einsatz und so erklärte Schmidt:
„Wir waren damals durchaus in dem Bewusstsein, gegen Artikel 143 [des
Grundgesetzes] zu verstoßen“.[16] Eine relevante Kritik an diesem
offenen Verfassungsbruch blieb allerdings aus. Vielmehr wurde damit ein
Grundstein gelegt, um 1968 mit den von der damaligen Großen Koalition
beschlossenen Notstandsgesetzen erstmals in der BRD Rechtsgrundlagen für
begrenzte Einsätze der Bundeswehr im Inland in die Verfassung zu schreiben.

Für die präventive Mobilisierung von Militärpolizist*innen zur
Unterstützung der Polizei, ohne eine geklärte Rechtsgrundlage, gibt es
allerdings auch in den letzten Jahren ein Beispiel. Während eines
rassistisch motivierten Terroranschlags in München 2015, der von der
Polizei fälschlicherweise für einen islamistischen Anschlag gehalten
wurde, versetzte Kramp-Karrenbauers Vorgängerin von der Leyen
Militärpolizei und Sanitätsdienst der Bundeswehr in München in
Alarmbereitschaft, um aus den Kasernen ausrücken zu können.[17] Auch
wenn es zu diesem Einsatz nicht kam, wurde der Vorfall genutzt, um
Stimmung für die Ausweitung der Befugnisse der Bundeswehr im Inland zu
machen.

Mit Blick auf die aktuellen Änderungen im Infektionsschutzgesetz warnen
zwei Professoren für Öffentliches Recht an den Universitäten Bonn und
Würzburg, Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel, vor grundlegenden
Brüchen der Verfassungsordnung. So würde der Gesundheitsminister
befähigt per Rechtsverordnung Gesetze und Grundrechte außer Kraft zu
setzen: „Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums,
gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setzt sich das
Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung“, die als
Lehren aus dem Ermächtigungsgesetz von 1933 eingeführt worden waren.[18]

Innenminister Seehofer geht längst einen Schritt weiter: Dass die
Grenzen des (Grund)gesetzes für ihn in der aktuellen Corona-Pandemie
nicht von Bedeutung sind, machte er in der Pressekonferenz zur
Ankündigung von Grenzschließungen am 15. März deutlich. Auf die Frage
eines Reporters nach der Rechtsgrundlage der Grenzschließungen
antwortete er: „Da gibt’s den Artikel 28 des Schengener Grenzkodex. Aber
jetzt muss ich ihnen ganz ehrlich mal sagen; Es ist schön, wenn man so
eine Grundlage hat, aber im Moment geht mir der Gesundheitsschutz der
Bevölkerung über alles. Es gibt auch Notsituationen, wo ein Staat,
selbst wenn so ein Artikel nicht vorhanden wäre, handeln müsste.“[19]
Damit spielte Seehofer bereits vor zwei Wochen mit der Rechtsfigur des
‚übergesetzlichen Notstands‘ und damit mit der Option, die Verfassung
angesichts der aktuellen Lage bewusst und offensiv zu brechen.

Verfassungsbruch verhindern – Bundeswehr raus aus den Straßen

Mit der Corona-Pandemie scheint jetzt der Punkt gekommen, an dem eine
Interpretation des Grundgesetzes durchgesetzt werden soll, nach der die
Bundeswehr problemlos als Hilfspolizei im Inland eingesetzt werden
könnte. Damit wird eine alte Gewissheit in der Bevölkerung, dass die
Bundeswehr im Inland zwar als vermeintliche „Hilfsorganisation in
Flecktarn“ bei Naturkatastrophen, nicht aber als bewaffnetes
Repressionsorgan mit exekutiven Polizeibefugnissen und damit als
politischer Machtfaktor im Inland eingesetzt werden darf, massiv
angegriffen.

Gegen diese Angriffe müssen wir uns aus bürgerrechtlicher,
antimilitaristischer, friedenspolitischer und antifaschistischer
Perspektive deutlich zur Wehr setzen. Das Grundgesetz wurde 1949, vier
Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der NS-Diktatur
geschrieben. Die damals auch unter Parlamentariern durchaus gängige
Lehre aus der Geschichte „Nie wieder Krieg – Nie wieder Faschismus“, die
einen Einsatz einer Armee als Machtfaktor im Inland undenkbar machte,
wurde über die Wiederbewaffnung 1955 und die Notstandsgesetze 1968
schrittweise zurückgedrängt.

Seitdem Deutschland im Laufe der 1990er Jahre wieder begonnen hat
Soldat*innen in Auslandseinsätze zu schicken und Kriege zu führen, wird
auch der Einsatz der Bundeswehr im Inland in kleinen Schritten
normalisiert. Was den Einsatz der Bundeswehr in Inland angeht, ist jetzt
der Punkt gekommen, an dem die Option Soldat*innen als Hilfspolizei
einzusetzen durchgesetzt werden soll. Die letzte elementare Begrenzung,
die Bundeswehr als innenpolitisches Machtinstrument einzusetzen, soll
gebrochen werden. Dafür wird sowohl der Wortlaut als auch der Sinngehalt
der Verfassung bewusst übergangen.

Ist dieser Geist erst einmal aus der Flasche, wird er dahin so schnell
nicht zurückkehren. Damit ist auch der Punkt gekommen, wo sich
Zivilgesellschaft, Friedens-, Bürgerrechts- und Antifaschistische
Bewegung aktiv gegen diese autoritäre Gefahr wehren müssen. Über die
Welt nach der Corona-Pandemie wird jetzt entschieden!

(Anmerkung dazu, H.E.: laut einer Rundfunkmeldung von Samstag sind bereits
in 10 brandeburgischen Gesundheitsämtern Bundeswehrsoldaten stationiert - laut
Kramp-Karrenbauer angeblich nicht mit hoheitlichen Befugnissen. -
Ich bin im Übrigen ja mal gespannt, wieviele Panzer die Bundeswehr
pro Coronavirus braucht, und wie dann die Trefferquote sein wird.

Aber mal im Ernst: dass jetzt eingesetzte Soldaten Führungsstrukturen der
Kampftruppen der Bundeswehr sowie denen von zwei Panzerdivisionen (s.o.)
unterworfen werden, ist schon ein starkes Stück und lässt Schlimmes befürchten.
Die Bundeswehr - und die Öffentlichkeit - sollen offenbar auf den militärischen Einsatz
der BW im Inneren vorbereitet werden bzw. diesen trainieren).

http://www.imi-online.de/2020/03/30/an-den-grenze-der-verfassung-und-darueber-hinaus/

 

Quellen:

[1] Spiegel, Matthias Gebauer und Konstantin von Hammerstein,
Coronakrise – Bundeswehr mobilisiert 15.000 Soldaten, 27.03.2020, spiegel.de

[2] Augen geradeaus!, Thomas Wiegold, Bundeswehr und
Coronavirus-Pandemie: Vorbereiten auf eine lange Krise, 27.03.2020,
augengeradeaus.net

[3] IMI-Studie 2008/03, Frank Brendle, Vernetzte Sicherheit? – Der
Einsatz der Bundeswehr im Inneren, 15.02.2008, imi-online.de

[4] Streitkräftebasis, Amtshilfe: Die Bundeswehr informiert, Absatz: Was
bedeutet Einsatz im Inneren?, bundeswehr.de; ähnlich auch in:
Bundeswehr, Podcast: Bundeswehr leistet Amtshilfe, Interview mit dem
Nationalen Territorialen Befehlshaber, Generalleutnant Martin Schelleis,
26.03.2020, bundeswehr.de

[5] IMI-Studie 2008/03, Brendle

[6] IMI-Studie 2008/03, Brendle

[7] Süddeutsche Zeitung, Nico Fried und Cerstin Gammelin, Schäuble will
nach Köln Möglichkeit eines Bundeswehr-Einsatzes im Inneren, 15.01.2016,
sueddeutsche.de

[8] IMI-Studie 2008/03, Brendle und IMI-Studie 2013/08a, Martin Kirsch,
Der neue Heimatschutz der Bundeswehr, 05.06.2013, imi-online.de

[9] IMI-Analyse 2012/022, Michael Haid, „Im Schatten eines Arsenals
militärischer Waffen kann freie Meinungsäußerung schwerlich gedeihen“!,
19.10.2012, imi-online.de

[10] IMI-Analyse 2012/022, Haid

[11] Abweichende Meinung des Richters Gaier zum Plenumsbeschluss vom 3.
Juli 2012; in: Bundesverfassungsgericht – 2 PBvU 1/11 – Urteil vom
03.07.2012, bundesverfassungsgericht.de

[12] Augen geradeaus!, Thomas Wiegold, Bundeswehr und
Coronavirus-Pandemie: Vorbereiten auf eine lange Krise, 27.03.2020,
augengeradeaus.net

[13] Wissenschaftliche Dienste des Bundestages, Sachstand, WD 3 – 3000 –
184/16, Einsatz der Bundeswehr im Innern – Übernahme von hoheitlichen
Aufgaben der Polizei durch die Bundeswehr im Rahmen der Amtshilfe,
bundestag.de

[14] TAZ, Christian Rath, Kommentar SPD-Kandidaten fürs
Verfassungsgericht: Folter muss tabu bleiben, 14.01.2008, taz.de

[15] IMI-Studie 2008/03, Brendle

[16] Bundestagssitzung vom 16.05.1968; nach: IMI-Studie 2008/03, Brendle

[17] IMI-Analyse 2016/33b, Martin Kirsch, Bundeswehr in den Straßen?,
16.10.2016, imi-online.de

[18] Klaus Ferdinand Gärditz, Florian Meinel: Unbegrenzte Ermächtigung?
Frankfurter Allgemeine Zeitung 26.03.2020. (hinter einer Paywall)
deshalb nach: German Foreign Policy, Die Grenzen des Machbaren –
Bundeswehr bereitet in Coronakrise Großeinsatz im Inland vor. Neues
Infektionsschutzgesetz stellt Gesetzesbindung der Regierung zur
Disposition., 30.03.2020, german-foreign-policy.com

[19] Phoenix, Grenzschließungen in Deutschland: PK von Innenminister
Seehofer, 15.03.2020, via Youtube: youtube.com