China : Zum 100. Geburtstag der Kommunistischen
Partei China
Zum Charakter der chinesischen Gesellschaftsordnung
von Wolfram Elsner am 8.7.2021
Folgende Kriterien halte ich für entscheidend,
um die chinesische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu charakterisieren
und daraus Schlussfolgerungen abzuleiten:
- Eigentum an Grund, Boden und Ressourcen
- Gesellschaftliche Langfristplanung
- Staatlicher Unternehmenssektor
- Höhe und Verwendung privater Renditen, Rückverteilung nach unten
- Armutsbeseitigung
- Förderung der Arbeiterklasse (Kämpfe, Arbeitsbedingungen, Löhne,
Steuerentlastung, Sozialversicherung)
- Veränderung und Vergesellschaftung des Konsumverhaltens, z.B. SharingÖkonomie
- Soziale Mobilisierung, politische Basisorganisierung, Willensbildung auf
vielen Ebenen
- Korruptionsbekämpfung
- Ökologie und Gesundheit
- (Un-) Fähigkeit der Kapitalistenklasse, sich zu
organisieren und ihre ökonomische Macht in politische Macht umzuwandeln
- Ausbildung in marxistischer Politischer Ökonomie
- Internationale Solidarität, Süd-Süd-Kooperation, Schuldenerlass und Hilfen
für die Ärmsten, Global Health
- Friedenspolitik, Stärkung der UNO und des Völkerrechts.
I. Grund, Boden und Ressourcen sind in
China Kollektiveigentum, in staatlicher Hand oder, auf dem Land,
dörflich-genossenschaftlich.
Es kann kein Privateigentum daran erworben
werden, es gibt nur verschiedene Nutzungsstrukturen (Pachtformen) von
unterschiedlicher Ausgestaltung und Länge.
Fünf-Jahres-Pläne sind zu
flexiblen Instrumenten mit hoher Mobilisierungsfunktion geworden.
Ihre zentralen Ideen werden breit diskutiert
und kontinuierlich angepasst, z.B. aus dem 13. und 14 FJP:
Verhaltensmodernisierung / Korruptionsbekämpfung / Lebensstil /
Sozialkredit-Systeme, Wachstumsbegrenzung / alternative Wohlstandsmaße /
„Glück“, Binnenorientierung / „Dualer Kreislauf“ / Ende des
Exportweltmeister-Konzepts, Ökologie / Umbau auf grüne Wirtschafts- und
Lebensweisen / intensive Mülltrennungsysteme /
konkrete Änderung des Energiemix/ konkrete Reduzierungsziele für
Energieverbrauch und CO2-Emissionen / weitere großflächige Aufforstungen /
Naturschutz und Artendiversität, Gesundheit / weitere
Erhöhung der Lebenserwartung / Verlängerung der Ausbildungsjahre, Neue
Seidenstraßen / Süd-Süd-Kooperation / Multilateralismus und Multipolarität /
Kooperationen und Krediterlasse / Impfstoffbereitstellung …
Der staatliche Unternehmenssektor
ist quantitativ seit den 1990ern deutlich reduziert, aber in seiner qualitativen
Bedeutung höher:
Hochmoderne Staatsunternehmen treiben die
privaten Konzerne in der Entwicklungsrichtung vor sich her.
Die staatlichen Banken sichern das ab.
Letztere haben millionenfaches neues, junges
Unternehmertum gefördert, haben es vor dem Großkapital zu schützen und haben
die Bevölkerung, z.B. in der Corona-Krise, zu schützen
(Kreditkündigungs-Verbot, zusätzliche Kredite).
Konzerne und Banken, staatliche wie private, müssen dafür dauerhaft geringere
Renditen in Kauf nehmen.
Die Kapitalrenditen
in China liegen dauerhaft unter dem Weltdurchschnitt (McKinsey), auch weil
Infrastrukturbeiträge, gesellschaftlich erforderliche Investitionen, hohe
Innovationen und relativ hohe Sozialversicherungsleistungen zu erbringen sind.
Milliardäre auf der Hurun-Liste kommen unter Druck und müssen ihren Reichtum erklären.
Der Gini-Koeffizient
sinkt über Armutsbeseitigung, Lohnsteigerungen und Druck auf die
Reicheneinkommen Richtung größerer Einkommensgleichheit. Längerfristiges Ziel:
von früher knapp 0,5 (sehr ungleich) auf etwas über 0.3 (relativ gleich). Für
Bewertung und Kreditwürdigkeit von Unternehmen wird ein neues Rating-System
eingeführt, das die Qualität der Beschäftigten als neuen Faktor enthält.
Ende 2020 wurde die Armut
auch in den letzten Ecken des Landes endgültig beseitigt (UNDP). In 40
Jahren wurden so über 800 Mio. Menschen aus der Armut geholt,
unter Xi und Li in
den 2010ern noch einmal die letzten 100 Millionen, mit detaillierten und
umfassenden lokalen Konzepten.
Die Lohnsteigerungen sind
seit vielen Jahren zweistellig, eine große Steuerreform hat 2020 die
unteren und mittleren Einkommen netto um 30 bis 50 Prozent steigen lassen.
China ist ferner das streikaktivste Land der Welt (R. Geffken).
Arbeiter streiken auch für Erhöhungen der
unternehmerischen Sozialversicherungsbeiträge
und für Investitionen in Innovationen.
Sie werden i.d.R. unterstützt von den
Basiseinheiten der KPCh.
China hat seit 2008 eines der fortschrittlichsten Arbeitsgesetze
gemäß ILO (Geffken).
Chinesische Arbeiter haben ein unmittelbares
Klagerecht im Betrieb, Gewerkschaften führen den Vorsitz bei betrieblichen
Streitverhandlungen.
Seit Ende der 1990er sind alle
Sozialversicherungen (Krankheit, Alter, Arbeitslosigkeit, Unfall, Mutterschaft)
fast flächendeckend (zwischen 90 und 100 Prozent) umgesetzt worden.
Unternehmen müssen höhere Belastungen für die
Sozialversicherungen tragen als im „Westen“. „Unsere
nationale Sicherheit ist die soziale Sicherheit der Arbeiterklasse“ (Xi).
Das chinesische Konsumverhalten
geht in Richtung ökologischer Konsum (s. „Ant Forest“!) und „bescheidener Lebensstil“ (Xi), mit breiten Diskussionen über neue Verhaltensweisen
(Essen, Konsumieren, Tierschutz etc.). Die Sharing-Ökonomie hat auf vielen Ebenen (Konsum, Freizeit,
Nutzung von Autos und IT, Produktion) ein weit größeres Ausmaß als im Westen.
Die Wohngebietsorganisationen (Shequ) sind zu einem Faktor der sozialen
Mobilisierung geworden.
8 Mio. Freiwillige haben die Menschen in der
Hubei-Quarantäne im Januar bis März 2020 betreut. Die Shequ übernehmen generell
Teile des bürokratischen Staates (z.B. Sozialaufgaben und
Sozialversicherungs-Administration, Konflikt-Regelung). Auch die Politische Konsultativkonferenz des
chinesischen Volkes (PKKCV) hat neben dem NVK eine hohe Bedeutung für
gesellschaftliche Diskussion gewonnen, die in den Sozialen Medien intensivst begleitet
wird.
Korruption, der
allumfassende Kern vom Kern des neoliberalen Finanzkapitalismus, ist seit Ende
der 2000er massiv zurückgedrängt worden.
Die korrupten Milliardäre aus der „Wild-Ost“-Zeit (1980er/1990er) sind
inzwischen über Hongkong nach Singapur, New York und London verschwunden.
Das merken die Menschen:
China hat im internationalen Vergleich mit das höchste allgemeine soziale Vertrauen
der Menschen untereinander, und zur Regierung
(regelmäßige Uni-Boston- und Uni-Stanford-Uni-San-Diego-Umfragen) und war 2020 das glücklichste Land unter 27
befragten Industrieländern (regelmäßige Glücks-Umfragen durch Ipsos, Paris/Washington).
Die Ökologie wird mit Hochdruck
auf allen erdenklichen Gebieten geschützt und ausgebaut, ca. 40 Mrd. Bäume sind seit 1978 in neuen Wäldern
zur Zurückdrängung der Wüsten gepflanzt worden, bis 2049 werden es 80 Mrd.
sein.
Die Waldfläche wird im 14. FJP von 23 auf 24
Prozent der Gesamtfläche ausgedehnt, das sind 11 Mio. ha mehr, eine Fläche
größer als Südkorea. Die „Ant Forest“
(500 Mio. Nutzer) hilft dabei seit 2017 (Bäume pflanzen lassen über ökologische
Verhaltensweisen). Naturschützer aus aller Welt und die UNEP sind in China aktiv.
Die Blue Map-Daten
sind ständige Begleiter im Alltag.
Alte Kohlekraftwerke und Kohlebergbau werden
stillgelegt.
China ist Weltmeister in der Produktion erneuerbarer Energien (Wasser, Sonne, Wind).
Erste Provinzen haben Einwegplastik komplett verboten (Herstellung, Verkauf, Nutzung).
Aus dem Weltraum ist China das grünste Land
(laut NASA) und agiert berechenbar mit vielen Mio. Tonnen CO2-Absorption gegen
die Verschlechterung des Weltklimas.
1 Mio. Diesel-Lkws wurden in zwei Jahren
stillgelegt, und Autos fahren demnächst per Induktion auf
Solarplattenautobahnen.
Inlandsflüge werden durch 650 km/h schnelle
Magnetschwebebahnen 2.0. ersetzt.
Die chinesische Kapitalistenklasse hat keine Chance, ihre
wirtschaftliche Macht auszuüben oder in politische Macht umzusetzen !!
Jüngstes Beispiel: Börsengang der Ant Group, der kurzfristig abgesagt
wurde.
Alibaba muss nun entflechten, seine Ant Group
sich als Finanzholding registrieren und bankenrechtlich kontrollieren lassen,
mehr Eigenkapital für sein neues Kreditgeschäft hinterlegen und den Haushalten
bei Online-Krediten sowie den Bauern und Händlern bei der Online- Vermarktung
(auf Taobao) mehr Freiheiten (auch zum Wechsel zu
Wettbewerbern) geben.
Ein klare antimonopolistische (und wettbewerbspolitische) Kante gegen das
größte chinesische IT-Konglomerat (bisher ein „Amazon plus Facebook plus PayPal
plus Allianz plus Sparkasse“). Jack Ma hat schon Vollzug gemeldet, und ein
Börsengang könnte so noch in 2021 stattfinden.
Alibaba wird so insgesamt eher effektiver und in der Summe vermutlich bald
noch wertvoller.
Der chinesische Finanzmarkt wird dadurch
stabiler, und die Regierung gewinnt weiter an Vertrauen bei Händlern und
Haushalten.
Die marxistische Politische
Ökonomie ist in allen Studiengängen aufgewertet worden.
Alle Studenten müssen vier einschlägige Kurse
in den ersten beiden Semestern studieren. Die Universitäten erhalten ein neues Bewertungs- und Rankingsystem, das
sich nicht mehr ans amerikanische Rankingsystem anhängt (Publikationen in
Top-US-Journals) und gesellschaftliche Faktoren höher gewichtet.
China praktiziert in der Süd-Süd-Kooperation
internationale Solidarität, mit vielen Milliarden Schuldenerlassen und -stundungen und Umschuldungen, mit
zinslosen Krediten, aber auch kostenloser oder preisgünstiger Versorgung mit Impfstoffen, dem erstmaligen Aufbau von eigenständiger Industrie
in Afrika,
500.000 afrikanischen Studenten in China,
medizinischen Teams in vielen Ländern, Aufbau
von Infrastrukturen (Krankenhäusern, Schulen, Verkehr, Versorgung etc.).
In diesem Kontext auch die neue alternative
Globalisierung durch die Neuen
Seidenstraßen.
China hat daher größte Autorität in der UNO und ihren Fachorganisationen (WHO, UNDP, UNEP, UNESCO, Menschenrechtsrat, WTO usw.). Westliche
Anträge eines China-Bashing finden i.d.R. nur 25 bis
maximal 30 Zustimmungen. Die meisten Ländervertreter, Diplomaten und
UNO-Beamten haben inzwischen China bereist, sich Xinjiang angesehen oder
die neuen Wälder.
China ist inzwischen also ein „Mekka“ für UN-Vertreter und Politiker der
Mitgliedsländer in Sachen Umwelt, Gesundheit, aber auch Minderheiten und
Menschenrechte.
Es praktiziert auch in der Shanghai Cooperation
Organization (SCO) und den
jährlichen regionalisierten Foren zur Belt and Road Initiative (BRI)
eine alternative
Weltordnung mit Geltung des klassischen
Völkerrechts
(Frieden / Nichtangriff, territoriale
Integrität, nationale Souveränität /Nichteinmischung, Friedliche Koexistenz
unterschiedlicher Systeme, kein Ersteinsatz von und keine Drohung mit
Atomwaffen usw.), bedroht kein Land, führt keine Kriege, hat (bis auf ein
kleines Kontingent im Hafen von Dschibuti) keine Militärstützpunkte und ist
militärisch international nur im Rahmen von UNO-Beschlüssen, hier allerdings
führend, aktiv. Seine Militärtechnologie
ist eindeutig defensiv
ausgerichtet (fast ausschließlich Mittelstreckenraketen,
Anti-Flugzeugträger-Raketen). China fordert permanent zu Multipolarität, Multilateralismus im
Handel und zu bedingungslosen Verhandlungen über alles auf. Die zentralen
Menschheitsgüter wie Umwelt und Gesundheit sollen in den Mittelpunkt.
II. Was also ist das
für eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung?
Kapitalismus? Es wäre ein
mieser Kapitalismus mit seinen unterdurchschnittlichen Renditen, hohen
Lohnerhöhungen und seiner Rückverteilung nach unten.
Eine (sozialistische) Marktwirtschaft?
China hat
und nutzt zwar hocheffektiv und
auf neuen Weisen regulierte Märkte und millionenfach kleines, junges,
innovatives Unternehmertum, ist
aber als System keine „Marktwirtschaft“ (was immer das auch wäre; der finanzialisierte neoliberale Kapitalismus ist ja auch alles
andere als eine „Marktwirtschaft“).
Die Produktivkräfte
sind auf einem hohen Stand angekommen.
China hat mit einem jahrzehntelangen „Ritt auf
der Rasierklinge“, durch Krisen und existentielle Gefahren hindurch, trotz
umfassender Behinderungen seine strukturelle Abhängigkeit vom Hegemonialsystem
abgeschüttelt, sich aufgewertet, zur neuen Nummer eins aufgeholt und das lange
Jahrhundert der Demütigung nach faktisch 150 Jahren endgültig abgeschüttelt.
Es hat aus allen Fehlern des Sozialismus auf der Welt gelernt und ist der Falle eines Armutssozialismus entkommen.
Es kann vom kapitalistischen Hegemonialsystem nicht mehr niederkonkurriert
werden, auch finanziell nicht.
Das Pro-Kopf-Einkommen
ist zwar enorm schnell gestiegen, bewegt sich jedoch noch im mittleren
Einkommensbereich der Länder der Welt.
Hier wird und will China nicht Nummer eins
werden, sondern wird im Gegenteil die normativen Grundlagen dieser Metrik
überwinden.
Aber das „mittlere“ Pro-Kopf-Einkommen wird
zugleich extrem stark „gehebelt“
zu Top-Leistungen in fast allen sozioökonomischen Bereichen, wie in keinem
anderen Land oder System.
Der umfassende
Wandel geht leicht und schnell (China
speed), ein Land im permanenten Lernen und
Experimentieren (chinesischer Experimentalismus). Da sich jeder grundsätzlich
sozial gesichert und eingebettet fühlt, gelingt dem Land eine enorme soziale
Mobilisierung.
Das Land geht also einen sozialistischen Weg und ist dabei in
einer frühen Phase.
Es geht Wege, die noch nie gegangen wurden,
berücksichtigt die Niederlagen, aber auch die Fehler und Degenerationen des
europazentrierten Sozialismus.
China generiert einen Sozialismus des guten Lebens.
Und sein Weg ist kein Exportprodukt (die „chinesischen Charakteristika“ gelten
nur für China). Es sucht, experimentiert, lernt und korrigiert sich dabei. Es
verändert die Welt zum Besseren. So hat es verdient, studiert, begriffen,
gewürdigt und mit Solidarität behandelt zu werden.
Quelle: https://www.freidenker.org/?p=10768
8.7.2021
---------------------
* Wolfram Elsner, geb. 1950, ist
Professor für Volkswirtschaftslehre an der Uni Bremen. Er ist Autor und
Herausgeber zahlreicher internationaler Publikationen und Lehrbücher. Zuletzt
von ihm erschienen: „Die Zeitenwende: China, USA und Europa ‚nach Corona‘“. Papyrossa-Verlag, Köln 2021, ISBN 978-3-89438-750-1. Und „Das chinesische Jahrhundert: Die neue Nummer eins ist anders“, Westend-Verlag, Frankfurt am Main 2020,