Bundesregierung und Coronakrise
Finale Rettungsschüsse –
Die Berliner Schießbude und der
Abschied der Tagesschau vom Nachrichtenjournalismus
von
Friedhelm Klinkhammer und Volker Bräutigam
Die Regierung Merkel schiebt im
Schlagschatten der Pandemie einen mörderischen Bundeswehr-Auslandseinsatz durchs Parlament; „unsere Jungs und
Mädels“ sollen jetzt auch noch nach Libyen. Bundestagspräsident Schäuble gibt das Grundgesetz für einen
finalen Rettungsschuss frei:
Die Würde des Menschen stehe über
dessen Recht auf Leben.
Und die Tagesschau, führende
Repräsentantin der „Vierten Gewalt“ im Staate, unterschlägt diese Informationen
und deren unerlässliche Erklärung.
Die indirekte Bankrotterklärung der ARD-aktuell kam in der Tagesschau-Hauptausgabe um
20 Uhr am 26. April: „Bundestagspräsident Schäuble hat angesichts der
Einschränkung vieler Grundrechte davor gewarnt, dem Schutz von Leben in der
Corona-Krise alles unterzuordnen. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im
Grundgesetz gebe, dann sei es die Würde des Menschen, sagte er dem
Tagesspiegel. Diese sei unantastbar, aber sie schließe nicht aus, dass Menschen
sterben müssen.
Daniel Popakra,
ARD-Hauptstadtstudio, berichtet anschließend über Alltagsaspekte der
Kontaktsperre, qualifiziert Schäubles Säure-Attentat auf die Verfassung als
„bemerkenswerte Äußerung“ und zitiert ihn noch einmal wörtlich:
„Wenn ich höre, alles andere habe vor dem
Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser
Absolutheit nicht richtig.“
Die Äußerung des
Bundestagspräsidenten, protokollarisch der Zweite im Staate (nach dem
Bundespräsidenten), ist als offiziöse Handreichung bei behördlichen
Entscheidungen über Leben und Tod zu verstehen.
Einen „Durchbruch des Sozialdarwinismus in
Zeiten der Corona-Pandemie“
nannte Rüdiger Minow das Schäuble-Interview im Berliner Tagesspiegel.
ARD-Mann Popakra
berichtete, Schäuble erhalte nicht nur lebhafte Unterstützung von seinem
Parteifreund Armin Laschet, dem nordrhein-westfälischen
Ministerpräsidenten, sondern auch von der Bündnis90/Die
Grünen-Fraktionsvorsitzenden Katrin Göring-Eckardt und von Alexander Gauland, Fraktionschef der AfD. Unisono, frei von Scham und
Berührungsängsten, bekundeten die alle: “Schäuble hat recht”.
Hat er nicht. Und das weiß er selbst
am besten. Bereits als Bundesinnenminister hatte er vergeblich versucht, sein
zynisches Grundrechtsverständnis durchzusetzen. Von der Idee, dass der Staat
gegebenenfalls Herr über Leben und Tod seiner Bürger sei, war er schon damals
geradezu besessen. Er hatte deshalb ein „Luftfahrtsicherheitsgesetz“ auf den
Weg gebracht, das die Behörden ermächtigte, von Terroristen entführte zivile
Passagierflugzeuge notfalls abzuschießen.
Das Bundesverfassungsgericht verwarf das Gesetz und belehrte den
Urheber:
„Dem Staat ist es im Hinblick auf
dieses Verhältnis von Lebensrecht und Menschenwürde einerseits untersagt, durch
eigene Maßnahmen unter Verstoß gegen das Verbot der Missachtung der
menschlichen Würde in das Grundrecht auf Leben einzugreifen. Andererseits ist
er auch gehalten, jedes menschliche Leben zu schützen.“
Die Tagesschau hätte mit Verweis auf
dieses höchstrichterliche Urteil zumindest den übelsten Auswüchsen des Streits
über das Anti-Pandemie-Regime der Bundesregierung ein rasches Ende machen
können. Hat sie aber nicht, und das disqualifiziert sie.
Unabdingbares Recht
Klare Ansage: Der Staat darf nicht
über das Lebensrecht seiner Bürger befinden, weder aktiv noch passiv.
Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit und Opportunität haben in diesem
Zusammenhang nichts verloren. Die Grundrechte „Würde des Menschen“ und „Recht
auf Leben“ beschränken sich nicht gegenseitig, sondern bedingen einander. Sie
stehen nicht zur Disposition anderer Freiheitsrechte oder gar
Wirtschaftsinteressen.
Der Staat hat jedes menschliche Leben
zu schützen. Jedes Leben, auch das des 90jährigen Vorerkrankten – sofern der es
nicht selbst enden lassen möchte.
Die Tagesschau-Redaktion hätte das
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes aus dem eigenen Archiv hervorholen und sich vergewissern
können. Sie hätte mit angemessen ausführlicher Berichterstattung darüber jene
Kontrollfunktion erfüllt, die den Medien als de facto „Vierter Gewalt im Staat“
zukommt.
Die Politiker aller Couleur äußerten
sich ebenfalls nicht; die bare ethische Selbstverständlichkeit des Karlsruher
Urteils war ihnen entweder nicht bewusst oder egal. Eine rühmliche Ausnahme war
nur der so oft herablassend beurteilte SPD-Vorsitzende Norbert Walter-Borjans. Er wies den bösartigen Vorstoß des Rechtsauslegers Schäuble im
Deutschlandfunk entschieden zurück.
Schäubles Infamie hat längst die
Vorstellung salonfähig gemacht, es sei besser, „nutzlose“ Alte,
Erwerbsgeminderte und Schwache zu isolieren und die arbeitsfähigen, kräftigen
Jüngeren wieder zur Arbeit zu schicken, vulgo: sie ungeniert auszubeuten. Hoch
lebe das Interesse der Wirtschaft und ihrer besserverdienenden Eliten!
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer, rechter Frontmann der Grünen, gab
denn auch die allerletzten Reste mitmenschlichen Anstands preis: „Ich sage
es Ihnen mal ganz brutal: Wir retten in Deutschland möglicherweise Menschen,
die in einem halben Jahr sowieso tot wären – aufgrund ihres Alters und ihrer
Vorerkrankungen.“
Palmers Grundvorstellung von der
Existenz „lebensunwerten Lebens“ pflegten schon die Nazis. Die redeten nur
nicht lange salbungsvoll drum herum, sondern bauten gleich die
Selektionsrampe. Die Grünen teilen sich heute in zwei protofaschistische Flügel:
Realos und Brutalos. Was sie eint, ist die lebensverachtende Bereitschaft zum
Krieg gegen andere Völker, die nicht auf transatlantisch-ökologischer Linie
sind.
Innen hui, außen pfui
Die Verfassungsnormen „Menschenwürde“
und „Lebensrecht“ werden nicht nur innenpolitisch gegeneinandergestellt,
sondern im außenpolitischen Raum komplett ignoriert – und dabei machen die
meisten Bundestagabgeordneten mit. Deutschland zeigt immer häufiger
Kriegsflagge. Die zynische Kontinuität der Negation des Lebensrechts belegt ein
Tagesbefehl der „Verteidigungsministerin“ Annegret
Kramp-Karrenbauer an
unsere Besatzungstruppen in Afghanistan: Dort sei „…sichtbar, dass die
Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr im Gefecht auch töten müssen und
sterben können. …“
Kontext und militaristische Sprache
machen deutlich, dass es um die Durchsetzung geostrategischer und
wirtschaftlicher Interessen mittels Kriegs und mörderischer Gewalt geht. Diese
Interessen haben höheren Kurswert als das Recht des Menschen auf sein Leben. In
der politischen Praxis zeigt sich unübersehbar, wie doppelbödig und
heuchlerisch das deutsche Idearium von „Würde des
Menschen” und „Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit” ist.
Im Schatten der Corona-Pandemie
schreckte der Bundestag nicht davor zurück, zahlreiche Kriegseinsätze in
Afrika, im Nahen und Mittleren Osten und in Zentralasien zu verlängern und
auszuweiten, teils auch gegen den ausdrücklichen Willen der fraglichen Staaten:
in Irak, Syrien, in Afghanistan, vor der Levante, im westlichen Mittelmeer, in
der Sahelzone, in Mali haben „unsere Jungs“ weiterhin den Finger am Abzug. Die
reaktionäre, bellizistische Mehrheit des Parlaments
will es so; sie schert sich einen Dreck um den Aufruf des UN-Generalsekretärs
Guterres, wenigstens während der Corona-Pandemie einen weltweiten
Waffenstillstand zu wahren.
Politiker der Güteklasse B
Heiko Maas, Außenminister der „Güteklasse B,
Dutzendware aus der Legebatterie der Parteipolitik“, ließ immerhin einen Blick
in den Abgrund seiner Unaufrichtigkeit und Heuchelei zu:
„ ….auf der Welt
gibt es anscheinend einige, die diese Corona-Krise nutzen wollen, um in dem
Konflikt, in dem sie engagiert sind, militärische Vorteile zu erzielen, dann
kann man das nicht anders als pervers bezeichnen”.
Dem Minister ging es um die Rechtfertigung eines
weiteren Bundeswehr-Auslandseinsatzes, diesmal vor Libyen.
Vor vier Monaten erst hatten Kanzlerin
Merkel und ihr Ministerdarsteller sich selbst auf der „Berliner
Libyen-Konferenz“ großsprecherisch zu Vermittlern in diesem blutigen
Bürgerkrieg ernannt und das auch über die Rohre der ARD-aktuell verkünden
lassen. Um aus der verkrampften deutschen Anmaßung überhaupt etwas
„Vermittelndes“ zu quetschen, wurde damals ein Waffenembargo beschlossen,
obgleich allen Beteiligten bewusst war, dass sich keine der libyschen
Kriegsparteien daran halten würde und es keine
Möglichkeit gibt, es zu erzwingen. Die vernagelte „Begründung“ des
Möchtegern-Geopolitikers Maas dafür, dass die Bundeswehr trotzdem in Libyen
mitmischen soll, ist auf Tagesschau.de nachlesbar: Das in Berlin für Libyen
beschlossene Waffenembargo werde „nicht so umgesetzt, wie wir uns das
wünschen.“ Ach nein?
Klassischer Verlautbarungsjournalismus
der Tagesschau am 22. April, 20 Uhr:
„Die EU-Außenminister haben in einer
Videokonferenz über die Lage der Flüchtlinge im Bürgerkriegsland Libyen
beraten. In der EU gibt es die Sorge, tausende Menschen könnten sich inmitten
der Corona-Krise auf den Weg übers Mittelmeer nach Europa machen. Zuvor hatte
das Bundeskabinett in Berlin grünes Licht für die deutsche Beteiligung an der
EU-Operation Irini gegeben, mit der das Waffenembargo gegen Libyen überwacht
werden soll.“
Ja, worum geht es denn nun? Um
unerwünschte Waffenlieferungen oder unerwünschte Flüchtlinge? Um ausgelatschte,
dümmliche Metaphern („grünes Licht gegeben“) ist die Tagesschau-Redaktion nie
verlegen, um klare Aussage häufig. Im anschließenden Filmbericht sagt Reporter
Markus Preiß:
„… Die Operation löst den bisherigen
EU-Einsatz Sophia ab, mit einem großen Unterschied: Die beteiligten Schiffe
sollen ausdrücklich keine Flüchtlinge aus Seenot retten.“
Es werden also mal ganz nebenbei das
Internationale Seerecht und das Völkergewohnheitsrecht gebrochen, das alle
Schiffsführer verpflichtet, Menschen in Seenot zu retten – und die Tagesschau weist
mit keinem Wort auf diesen verbrecherischen Aspekt des Regierungsbeschlusses
hin. Sie lässt aber den inhumanen Angeber Maas zu
Wort kommen:
„Wir haben die Mission innerhalb
kürzester Zeit beschlossen, und damit auch, obwohl uns Viele ja das gar nicht
zugetraut haben, als Europäische Union gezeigt, wir sind bereit, Verantwortung
zu gehen.“
Welch ein gewissenloses Gestammel.
Doch juckt das die Tagesschau-Qualitätsjournalisten?
In den libyschen Flüchtlingslagern
vegetieren mehr als 700 000 Menschen in unbeschreiblichem Elend. Es herrscht
der blanke Terror. Korrupte Milizen, von der EU
toleriert und teilweise sogar finanziert, begehen unvorstellbar brutale
Menschenrechtsverletzungen. Einheiten aus diesen Verbrecherbanden sollen nun im
Rahmen der EU-Mission IRINI „für Polizeiaufgaben“ geschult werden. Nicht zu
fassen? Niederträchtig? Es gäbe zahlreiche treffende Begriffe für die
menschenverachtende, aber systematisch betriebene deutsche Außenpolitik.
Idiotisch und widersprüchlich
Maas möchte angeblich das
UN-Waffenembargo durchsetzen. Wäre dem tatsächlich so, dann würde sich sein
Bestreben gegen die Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate und
Katar richten, allesamt Großkunden der deutschen Rüstungskonzerne. Die hat im vorigen
Jahr Waffen für 1,3 Milliarden Euro dorthin exportiert. Waffen, die nun auch in
Libyen eingesetzt werden. Deutsche
Waffenverkäufe an die Kriegsparteien einerseits und deutsche Aufmandelei für ein Waffenembargo andererseits: Der Hirnriss dieser Außenpolitik ist unübersehbar.
Der Bundestag debattierte das
Libyen-Mandat für die Bundeswehr am Tag nach dem Kabinettsbeschluss. Doch was
das entscheidungsbefugte Parlament zu sagen hatte, fand die Tagesschau schon
nicht mehr berichtenswert. Deshalb hier ein
Schlaglicht darauf, der Kommentar der Linke-Bundestagsabgeordneten Sevim Dagdelen:
„Herr Maas, Ihr sogenannter
Friedenseinsatz ist so lange nichts anderes als eine Showveranstaltung, wie Sie
an beide Seiten der jeweiligen Kriegskoalition weiter Waffen liefern …
gemeinsam mit Italien und Frankreich … die, weil es um die Interessen ihrer
Ölkonzerne ENI und TOTAL geht, die jeweils andere Seite im libyschen
Bürgerkrieg unterstützen…“
Das Libyen-Mandat soll vorerst bis
Ende April 2021 gelten. Seine Kosten sind mit rund 45,6 Millionen Euro
veranschlagt. Für Lumpenpolitik ist seit jeher genug Geld da. Bleibt
anzumerken:
61 Prozent der Bundesbürger lehnen solche Auslandseinsätze ab,
nur 30 Prozent sind eindeutig dafür. Im Bundestag verhält sich das allerdings
genau umgekehrt: Nur rund ein Drittel ist dagegen, zwei Drittel sind dafür.
Soviel zum Thema „Volksvertretung“.
Zurück zu Maas, dem Angeber, dem Heuchler: Noch im
Januar hatte er in Anne Wills unsäglich mieser Talkshow behauptet, dass er mit
den libyschen Milizionären und kriminellen Finsterlingen ganz gewiss nichts im
Sinne habe:
„Nein, das können wir nicht, das wollen wir auch nicht.” (23)
Oh doch, „wir“ können. Und „wir“
wollen auch. „Wir“ bewegen uns dabei ganz im ideellen Rahmen der
Wert-des-Lebens-Debatte, wie eingangs beschrieben.
Der Bundesregierung ist das Leben der
Afrikaner nämlich vollkommen wurscht.
Noch mehr wurscht als den Schäubles
und Palmers, die das Leben tausender alt oder krank und verletzlich gewordener
Deutscher dem vorzeitigen COVID-19-Tod überlassen wollen.
Leben und andere sterben lassen, heißt
die Devise.
Quelle: https://publikumskonferenz.de/blog/2020/05/04/finale-rettungsschuesse-die-berliner-schiessbude-und-der-abschied-der-tagesschau-vom-nachrichtenjournalismus/ 4. Mai 2020