Brasilien

Dilma und die repräsentative Demokratie

Brasilien: Kein Putsch ohne die Hilfe der USA

von Wolf Gauer am 6.6.2016

DER AUTOR LEBT UND ARBEITET IN BRASILIEN

1985 beendete Präsident Tancredo Neves glorios die zwanzigjährige Militärdiktatur Brasiliens. 2014 verlor sein Enkelsohn Aécio Neves die brasilianischen Präsidentschaftswahlen und machte sich zum Anstifter eines perfiden Staatsstreichs. Beiden ist ein Platz in der brasilianischen Geschichte sicher.
Mit einem Vorsprung von 3,2 Prozent hatte Dilma Vana Rousseff ihr zweites Präsidentschaftsmandat gewonnen, zugleich das vierte für die Arbeiterpartei in Folge. Am 12. Mai 2016 wurde sie – vorläufig – vom Amt suspendiert. Vorausgegangen waren in Kongress und Senat drei so fragwürdige wie groteske Zustimmungsrituale zu einem Amtsenthebungsverfahren (Impeachment), das nur in Washington und Berlin als verfassungskonform klassifiziert wird. In längstens 180 Tagen muss eine vom Obersten Bundesgericht überwachte Untersuchung (nebst neuerlicher Abstimmung im Senat) erweisen, ob der gegenüber Rousseff erhobene Vorwurf der verantwortungslosen Verbuchung von Haushaltsmitteln zutrifft und ihre endgültige Ablösung gerechtfertigt ist.
Die unter Rousseffs Vize Michel Temer, dem Vorsitzenden der ultra-liberalen Partei der demokratischen Bewegung Brasiliens (PMDB) und vormaligen Informanten der US-Botschaft, konstituierte Interimsregierung ist schon dabei, regelwidrig und unter dem Vorwand der „nationalen Rettung“, sämtliche bisherigen Funktionsträger gegen Parteigänger der totalen Liberalisierung, Privatisierung und Neokolonialisierung auszuwechseln. Das Wirtschaftsministerium übernimmt Henrique Meirelles, Brasilianer und US-Bürger, ehemaliger Präsident und Chief Executive Officer von BankBoston und persönlicher Berater des US-Präsidenten Bill Clinton. Zentralbankchef ist Ilan Goldfajn mit israelischem und brasilianischem und Pass, Teilhaber der größten brasilianischen Privatbank (Itaú Unibanco) und ehemaliger Funktionär des Weltwährungsfonds. 2005 hatte Präsident Lula da Silva Brasilien mühsam aus dieser Verschuldungsagentur freigekauft. Unter den 23 Ministern der Interimsregierung sind keine Frauen, auch keine Afrobrasilianer trotz deren Bevölkerungsquote von 50 Prozent.
Umverteilungsmechanismen wie die Familienbeihilfe (Bolsa Familia) und die staatliche Eigenheimfinanzierung „Minha Casa, Minha Vida“ (Mein Heim, mein Leben) wurden drastisch reduziert. Die Gebührenfreiheit des öffentlichen Gesundheitsdiensts und der Bundes-Universitäten (19 davon von Lula da Silva und Dilma Rousseff gegründet) ist in Frage gestellt. Vorrang hat unbestritten die vollständige Privatisierung des halbstaatlichen und weltweit zehntgrößten Ölproduzenten Petrobras und der wachsenden brasilianischen Offshore-Ölförderung. WikiLeaks belegte am 12. Mai, dass der sozialdemokratische Abgeordnete José Serra schon seit 2009 mit der US-amerikanischen Chevron Corporation entsprechende Pläne aushandelt.
Und nun ist Serra auf einmal Außenminister, und US-Botschafts-Informant Temer Präsident. Ein weiter US-Zuträger, Romero Jucá, wurde Planungsminister, stürzte aber über aufgezeichnete Kungeleien, die ihn und weitere hohe Chargen der Interimsregierung als Putschisten entlarven. Temer und Serra beabsichtigen übrigens, die von da Silva und Rousseff in Afrika und in der Karibik eröffneten brasilianischen Botschaften wieder zu schließen und alle sonstigen lateinamerikanischen Integrationsmechanismen zu überdenken. Brasiliens Zugehörigkeit zur BRICS-Gruppe bleibt vorerst unberührt. Denn China ist Brasiliens größter Handelspartner und wird als Investor (und Hauptaktionär der Asiatischen Infrastruktur-Entwicklungsbank AIIB) heftig umworben. Im Übrigen sollen aber bilaterale Bindungen, nicht multilaterale, angestrebt werden.
Das fünft größte Land der Welt, die neunt größte Wirtschaftsmacht, ordnet sich bedingungslos der US-amerikanischen Geostrategie unter. Schon am Tag nach der Impeachment-Zulassung im Kongress erstattete der sozialdemokratische Senator Aloysio Nunes Vollzugsmeldung in Washington. Bei Staatssekretär Thomas Shannon (Ex-US-Botschafter in Brasilien) und Madeleine Albright, ehemals Bill Clintons Außenministerin, heute Chefin des Lobbykonzerns Albright Stonebridge Group, dem auch Joschka Fischer als Senior Strategic Counsel (Senior-Strategieberater) angehört. Niemals in meinen 42 Jahren Brasilien – die Militärdiktatur ausgenommen – war mir so bang um dieses Land.

Wie konnte es so weit kommen?
Soviel Rückschritt brauchte selbstverständlich mediale und parlamentarische Vorarbeit. Als Speerspitze bot sich der besagte, intellektuell eher bescheidene, aber rachsüchtige Wahlverlierer Aécio Neves an. Als echter Sozialdemokrat und Chef der erzopportunistischen „Partei der brasilianischen Sozialdemokratie“ (PSDB) hatte er schon 2013 gefordert, die Macht der Arbeiterpartei um jeden Preis zu brechen. Ungeachtet der letztlich liberal geprägten Wirtschaftspolitik von Präsident Lula da Silva (2003–2011) und seiner Nachfolgerin Dilma Rousseff, der zufolge gerade Banken und Industrie mehr verdienten als je zuvor. Neves setzte auf den Namen des Großvaters, auf den Filz seiner Partei und die unversöhnliche Aversion der traditionellen Oligarchien und ihrer Töpfe klappernden, besserverdienenden Nacheiferer gegen jedweden sozialen Ausgleich.
Mithilfe jener fünf Familien, die die fast ausschließlich die privatwirtschaftlich-kommerziellen und rechtsliberalen Medien Brasiliens beherrschen, wurde eine beispiellose Hasskampagne inszeniert. Hilfreich war dabei das Know-how der US- Botschafterin Liliana Ayalde, die, aus Bolivien ausgewiesen, in Paraguay den äußerst ähnlichen „kalten Putsch“ gegen Präsident Fernando Lugo koordiniert hatte (2012). Die Medienbarone schossen sich mit systematisch wiederholten Korruptionsvorwürfen, Falschmeldungen und Verleumdungen auf die Präsidentin, die Arbeiterpartei und den nationalen Ölkonzern ein. Und sie brachten die auch in deutschen Konzernmedien hochgejubelten Demonstrationen eines Bürgertums zustande, das sofort nach Militärregierung schrie. Die Militärs zeigten allerdings die kalte Schulter und stellten sich ausdrücklich hinter die Verfassung.
Indessen suchte die Justiz mit bislang ungekannter Insistenz nach Korruptionsbelegen im Umkreis von Rousseff, Petrobras und vor allem von Lula da Silva, der als erklärter Kandidat der Präsidentschaftswahlen 2018 kaltgestellt werden soll. Man wurde fündig. Die Aktion „Lava Jato“ (sinngemäß: Waschstraße) brachte dutzende Unternehmer, Abgeordnete, Direktoren der Petrobras und der großen Baukonzerne vor den Kadi – Korruption ist schließlich Teil aller politischen Kultur – konnte aber weder Rousseff noch da Silva schlüssig inkriminieren. Sie belastete dagegen ungewollt aber schwerstens die Gegner der Präsidentin. Diese suchen nun erst recht den Regimechange, weil sie sich von einer rechtslastigen, US-hörigen Regierung die Absolution versprechen.

Der niedere Klerus und die bourgeoise Demokratie
Das höchst fadenscheinige Amtsenthebungsverfahren muss also her, wie auch immer. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg. Und dieser führt – formalistisch und äußerlich legal – durch den Irr- und Verwirrgarten der parlamentarischen, indirekten, repräsentativen Demokratie, liturgische Ikone der westlichen Wertegemeinschaft und Garantie dafür, dass Abstimmungen so ausfallen wie vorher abgekartet.
Im brasilianischen Unterhaus (Câmara dos Deputados) sitzen derzeit 513 Abgeordnete aus insgesamt 25 Parteien. Gemeinsam ist ihnen die Anonymität. Wer kennt schon ihre Kürzel oder Namen, wer weiß, was sie außer Lobby tatsächlich beschäftigt, was sie eigentlich unter ihrem Mandat verstehen? Nur 95 aus gerade vier Parteien stimmten gegen die Amtsenthebung Dilma Rousseffs: vollzählig ihre „Partei der Arbeiter“ (PT), auch die „Partei für Sozialismus und Freiheit“ (PSOL) und in alter Treue die „Kommunistische Partei von Brasilien“ (PCdoB). Nur 34 der 511 über Rousseff Votierenden haben ein Direktmandat, sind also persönlich gewählt. Die Übrigen gelten als „niederer Klerus“, als käufliche Mitläufer und Manövriermasse auf den Listenplätzen. Mehr als 100 hatten vorgegeben, gegen das Impeachment votieren zu wollen und somit (als Sperrminorität) die Amtsenthebung zu blockieren.
Die ausnahmsweise nicht geheime, mündliche und vom Fernsehen übertragene Abstimmung offenbarte aber, wer wirklich das Volk vertritt. Da hieß es nicht einfach „ja“ oder „nein“, sondern „ja, im Namen der charismatischen Erneuerung“, „ja, für meinen Enkel Pedro“, „ja, für alle Versicherungsvertreter“ oder „ja, weil gegen die Geschlechtsumwandlung von Kindern in der Schule“, selbstverständlich auch „ja, gegen den Kommunismus“ (Época, 18.4. und Vermelho, 17.4.). Betroffenheit löste der Abgeordnete Bolsonaro aus, der sein Ja einem berüchtigten Folterer der Militärdiktatur widmete, unter dem auch die junge Dilma Rousseff zu leiden hatte, wie Bolsonaro stolz betonte. Folgerichtig knallten nach der Abstimmung Sektkorken und Böller auf den schicken Balkonen von São Paulo, dort wo schon längst das Töpfeklappern an der Tagesordnung war (vgl. „Der große Happen“, http://www.ossietzky.net/17-2015&textfile=3201)
Der Parlamentspräsident Eduardo Cunha, Neves’ Alter Ego und heute wohl der bestgehasste Mann Brasiliens, hatte die Hinterbänkler und den Abstimmungsmodus derart präpariert, dass nur noch starke Charaktere ein öffentliches Nein riskierten. Cunha ist die Identifikationsfigur der brasilianischen Rechten, Prototyp des neuen, smarten Technikers der Macht. Evangelikaler Opportunist (eines seiner Unternehmen nennt sich Jesus.Com), mit nationalen und internationalen Korruptionsvorwürfen belastet – die Schweiz wird demnächst rund acht Millionen Dollar seiner dort geparkten Schmiergelder an Brasilien zurückerstatten – personifiziert er die Klimax der abgehobenen, abgekoppelten Abgeordnetendiktatur. Ziel und Endstadium der indirekten, repräsentativen Demokratie. Mit bösartiger Virtuosität hat er die integre, direkt gewählte Hoffnungsträgerin der Armen zur Strecke gebracht und Brasilien zurück in den Hinterhof der USA. Inzwischen – und zu spät – vom Obersten Bundesgericht suspendiert, manipuliert er nun den Kongress über seine parlamentarischen Zeloten.
Die schweizerische Historikerin Henriette Hanke Güttinger schrieb mir dieser Tage: „Ob Militärputsch oder smart power im Gewande der repräsentativen Demokratie – was dann folgt ist gleich: Es wird schamlos geplündert auf Kosten der einheimischen Bevölkerungen.” Und das gilt nicht nur für Lateinamerika.

Erschienen in Ossietzky, Zweiwochenschrift für Politik, Kultur und Wirtschaft, Heft 12/2016

Quelle : http://www.rationalgalerie.de/kritik/dilma-und-die-repraesentative-demokratie.html