Argentinien – Die Wahl
von Alberto Fernández und die eingeläutete
politische Wende in
Lateinamerika
Nach der ersten
Auszählung der 26,5 Millionen abgegebenen Stimmen von rund 34 Millionen
Wahlberechtigten gingen am vergangenen 27. Oktober der peronistische Jurist
Alberto Fernández und die ehemalige Staatschefin Cristina Kirchner de Fernández
als seine Vizepräsidentin mit 48,1 Prozent zu 40,4 Prozent – einem knapp
8-prozentigen, jedoch klaren Vorsprung gegenüber dem amtierenden und zur
Wiederwahl angetretenen Präsidenten Mauricio Macri – als Sieger der argentinischen
Präsidentschaftswahlen hervor. Von Frederico
Füllgraf.
In ihrer Ausgabe vom 5. August 2019 zitierten die NachDenkSeiten Prognosen des
argentinischen Meinungsforschungsinstituts Circuitos, wonach Fernández
Präsident Macri mit runden 10 Prozent Vorsprung bereits im ersten Wahlgang
besiegen würde. Die Prognose hat sich nach Auszählung von 100 Prozent (Stand am
27. Oktober: 97 Prozent) der abgegebenen Stimmen, die Fernández rund 9 Prozent
Vorsprung zusichern, als tendenziell richtig erwiesen.
Mit der gleichzeitigen
Wahl der Mehrheit von über 20 Provinzgouverneuren gelang der
Fernández&Fernández-Formel “Frente de Todos“ allerdings auch der Ausbau
ihres Stimmenanteils im argentinischen Hinterland auf nahezu 50 Prozent. Was
einerseits zu Recht beachtlich erscheint, beleuchtet andererseits einen
komplexen Umstand: die tiefe ideologische Spaltung nicht nur Argentiniens,
sondern der Mehrheit der lateinamerikanischen Länder.
Uruguay nach November
2019: ein Bollwerk des Bolsonaro-Regimes?
Ob in Brasilien – von
2003 bis 2018 – oder in den zeitgleich am vergangenen 27. Oktober in Bolivien
und Uruguay stattgefundenen Präsidentschaftswahlen, es hat sich eine fatale
Tendenz durchgesetzt: In teils radikaler, teils ängstlicher Abgrenzung zur
Mehrheit der den Preis skrupellosen Abbaus von Einkünften und sozialen Rechten
zahlenden, werktätigen Bevölkerung bejaht die Mehrheit der lateinamerikanischen
Mittelschichten bisher freiwillig die seit wenigen Jahren vorherrschende
neoliberale Offensive einheimischer Eliten im Bündnis mit dem internationalen
Finanzmärkten.
Dieses Abdriften stellt
die am kommenden 10. Dezember antretende Regierung Alberto Fernández vor eine
ernsthafte Herausforderung. Mit sozialer und kultureller Kreativität muss sie
in den kommenden Jahren den Konservativen einen Großteil der Mittelklasse
entreißen, um politische Desaster wie das eines Jair Bolsonaro, aber auch um
die Wahl konservativer Restaurateure wie Luis Lacalle Pou von der uruguayischen
Nationalpartei (PN) zu verhindern.
Zu Recht wunderten sich
Medien und Analysten, wie es zu erklären sei, dass nach nahezu fünfzehnjähriger
Regierungszeit der progressiven Frente Amplio (Breite Front – FA) von Präsident
Tabaré Vázquez und seines weltweit geehrten Vorgängers José Pepe Mujica – mit
erfolgreicher sozialer Integration, Abbau der Armut, gekoppelt mit nachhaltigem
Wirtschaftswachstum – mehr als die Hälfte der Uruguayer am vergangenen 27.
Oktober entweder ihre Stimme an die ultrakonservative PN (30,2 Prozent) abgab
oder dass 11,0 Prozent gar den rechtsradikalen Militär Guido Manini Ríos
wählten, der eine revanchistische Bewegung zur Leugnung der
Menschenrechts-Verbrechen der uruguayischen Militärdiktatur anführt.
Mit 39,95 der Stimmen
und fehlenden 1,0 Prozent für einen 10-prozentigen Vorsprung, der ihr den Sieg
in der ersten Wahlrunde rechtlich gesichert hätte, wird daher die regierende FA
zur Stichwahl im November gegen Lacalle Pou gezwungen; ein fast aussichtsloses
Unterfangen, in dem der Kandidat der PN mit Unterstützung eines massiven
rechten Sammelbeckens gegen den sozialdemokratischen Kandidaten Daniel Martínez
antreten und die fünfzehnjährige Ära fortschrittlicher Politik in Uruguay mit
Rückführung in die neoliberale Falle, aber auch mit Hörigkeit gegenüber dem
brasilianischen Bolsonaro-Regime beenden wird.
Alberto Fernández und
der Wiederaufbau eines Landes in Ruinen
Der frischgewählte Präsident
Argentiniens – bekannt für zurückhaltende Konzilianz, dem als Voraussetzung für
seinen Sieg die Einigung des breiten, jedoch unter Cristina Kirchner
zerstrittenen peronistischen Lagers gelang – hat es mehrmals wiederholt: Macris
“Vermächtnis” sind 5 Millionen neue Arme in Argentinien, genauer: 5 Millionen
Menschen, die nach Weltbank-Bemessungen mit einem Tageseinkommen von weniger
als 3 US-Dollar oder ohne ausreichende Grundernährung ein Überleben unter der
internationalen Armutsgrenze fristen.
„Die Machtübernahme der
(Macri-)Regierung hat eine enorme wirtschaftliche, soziale, kulturelle und
qualitative Verschlechterung der Gesellschaftszustände zur Folge gehabt“,
erklärte Fernández im vergangenen September in Madrid, wo er auf Einladung des
spanischen Parlaments weilte. Im Einzelnen habe der wirtschaftspolitische Kurs
der Macri-Administration die Beschädigung des öffentlichen Gesundheitssystems,
den Abbau der Löhne – die noch vor wenigen Jahren zu den höchsten in
Lateinamerika zählten – aber auch die Zerstörung ganzer technologischer Sektoren
zu verantworten. „Wir haben enormes Potenzial verloren“, beklagte der nun
gewählte Nachfolger Macris. Der Regierung des noch bis Dezember amtierenden
Unternehmers und Multimillionärs wirft Fernández vor, „auf ihrem Rückzug mit
der Kunst der Improvisation und der Wirtschaft gespielt“ zu haben; vor allem
mit seiner unverantwortlichen Verschuldungspolitik.
Mit einem diskreten Wink
an den Finanzmarkt hatte Fernández jedoch längst vor seinem Wahlsieg erkennen
lassen, er sei bereit, die 283,5 Milliarden US-Dollar schweren Auslandsschulden
– darunter vor allem den 2018 vom Internationalen Währungsfonds (IWF) bewilligten
50-Milliarden-Dollar-Kredit – „zu begleichen“, um die ohnehin desolate Krise,
die das Land erschüttert, nicht noch weiter zu verschärfen. Die
halsbrecherische Verschuldungspolitik der Macri-Administration macht eine
einfache Arithmetik deutlich: Als der Millionär 2015 die Macht übernahm, betrug
die Verschuldung 28 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), heute beträgt sie
über 100 Prozent des BIP.
Als damit gekoppelte
Nebenhandlung wurde die Landeswährung Peso um schwindelerregende 300 Prozent
gegenüber dem US-Dollar entwertet, Macri verdoppelte seitdem die
Arbeitslosigkeit und trieb die Armut zwischen 20 und 30 Prozent in die Höhe.
Wenn Macris Amtszeit im kommenden Dezember endet, erbt die Regierung Fernández
eine von schwerer Rezession gezeichnete Wirtschaft und eine jährliche
Inflationsrate um die 57 Prozent; die zweithöchste Lateinamerikas nach
Venezuela.
Was diese Zustände für
die verelendete Mehrheit der Argentinier bedeuten, ist aus den erschütternden
Bildern und Aussagen in dem aktuellen und empfehlenswerten Dokumentarfilm Funding Misery: Argentinians vs. the IMF (“Die Förderung des Elends: Argentinier gegen den
IWF“) zu entnehmen. „Wenn das Essen nicht für die ganze Familie ausreicht, dann
essen wenigstens die Kinder einmal am Tag und wir, die Erwachsenen, betrügen
den Hunger mit Mate-Tee“, erzählt unter anderem eine Mutter aus Buenos Aires‘ Nachbardistrikt
Lanús.
Fernández bleibt keine
andere Wahl als ein Sofortprogramm mit Notmaßnahmen zur Linderung von Hunger,
Krankheit und mangelnder Mobilität. Ab dem 10. Dezember will die Regierung einen Grundnahrungsmittelkorb
sowie kostenlose Medikamente als Abhilfe für 15 Millionen Menschen verteilen. Im Gegensatz zu Chile
werden als abstützende Maßnahmen Tarife für Gas und Strom zeitweilig
eingefroren und die Fahrpreise für öffentliche Verkehrsmittel je nach Einkommen
segmentiert und gestaffelt.
Eine Wende neoliberaler
Götterdämmerung oder regieren weiterhin die Börsen?
„Neue Winde wehen und können die
Richtung ändern. Winde aus den chilenischen Anden mit Protesten gegen die von
der neoliberalen Politik ausgelöste Armut … Die Winde wehen auch aus Ecuador,
mit Straßendemonstrationen gegen die Hungersnot. Aus Bolivien mit der
Wiederwahl von Evo Morales. Und schließlich aus Argentinien mit dem Wahlsieg
von Alberto Fernández. Der neue argentinische Staatschef, der gegen die
neoliberale Politik eintritt, feierte den Wahlsieg und forderte Lulas
Freiheit“, kommentierte
erfreut der brasilianische Journalist Florestan Fernandes Jr. auf der Nachrichten-Plattform Brasil 247.
In der Tat war Alberto
Fernández der einzige Politiker hohen Ranges in Lateinamerika, der es für
notwendig und anständig hielt, dem seit April 2018 im südbrasilianischen
Curitiba bar jeder Beweislage inhaftierten Altpräsidenten
Lula einen Freundschaftsbesuch abzustatten. Als Universitätsprofessor hat der
Jurist längst die im Fachjargon als Lawfare bekannte politische Verfolgung
progressiver Politiker des Kontinents – darunter seiner Vizepräsidentin
Cristina Fernández de Kirchner und des ehemaligen ecuadorianischen Präsidenten
Rafael Correa – durch eine vom US Department of Justice politisierte und von
langem Arm gesteuerte Justiz durchschaut und vehement auch gegenüber der
spanischen Regierung mit den Worten angeprangert, „Ich werde um Gerechtigkeit
in jedem Land Lateinamerikas bitten. (…) Sie benutzen Gefängnisse als
Druckmittel auf die Opposition. Wir müssen die Gerichte als solche handeln
lassen, statt sie zu politisieren“.
Das Bolsonaro-Regime mit
seinen altersschwachen, jedoch tollwütig „antikommunistisch“ anmutenden
Generälen hatte sich frech in die Argentinien-Wahl mit der offenen
Unterstützung Macris eingemischt – und mit ihm verloren. Umso mehr empörten
sich die Rechtsradikalen über Fernández‘ Solidaritätsbekundungen für ihren
politischen Gefangenen Lula und setzen seit dem Wahlausgang auf offene
Konfrontation mit Argentinien.
Doch wie wird ein
Wahlsieg wie der von Alberto Fernández in einem Medium wie dem deutschen
Spiegel präsentiert? Nicht etwa mit einer auch nur in Stichworten angedeuteten
Beschreibung der dramatischen Ausgangslage in Argentinien, sondern mit den
obszönen Augen der Märkte. So vom Spiegel mit dem Haupttitel „Alberto Fernández liegt
bei Wahl in Argentinien vorne“ und dem Zwischentitel „Wie die Börsen auf eine mögliche Vize-Präsidentin
Kirchner reagieren“ publiziert. Kaum ein Wort über die soziale Verelendung,
sondern unmittelbare Attacke gegen die ehemalige Staatschefin und jetzige
Vizepräsidentin an der Seite von Fernández.
Da liest man, „das
Ergebnis bedeutet auch, dass die direkte Vorgängerin Macris, Cristina Kirchner,
als Vizepräsidentin in
die Regierung zurückkehrt. Sie war von
2007 bis 2015 Präsidentin. Gegen Kirchner laufen mehrere Verfahren wegen
Korruptionsvorwürfen. Sie ist derzeit Senatorin und genießt daher Immunität“.
Dass die Vorwürfe gegen Cristina Kirchner von einer – wie von Fernández
angeprangert und von den NachDenkSeiten wiederholt dokumentiert – wie in Brasilien politisch unterwanderten Justiz
vorgebracht, jedoch gerade in den vergangenen Wochen zum Teil wieder verworfen
wurden, darüber finden die Leserin und der Leser beim Spiegel kein Wort – und
werden künftig auch keines finden, umso mehr jedoch von den Börsen. „An den
Börsen hatte ein möglicher Wahlsieg Fernández die Anleger verunsichert – auch
die Landeswährung Peso hatte wiederholt stark abgewertet. Die Aktionäre
fürchteten offenbar eine Rückkehr Kirchners an die Macht. Die Ex-Präsidentin steht für eine
protektionistische Wirtschaftspolitik“.Denn was die
Spiegel-Nachrichtenredaktion zu bewegen scheint, ist das, was die neoliberale
Börse meint.
Quelle: https://www.nachdenkseiten.de/?p=56065