Afghanistananalyse: Die
Taliban sind jetzt militärisch besser ausgerüstet
als viele NATO-Länder
Rainer
Rupp 23.August 2021
Nach der US-geführten NATO stehen nun die afghanischen
Taliban an zweiter Stelle der Rangliste der größten und militärisch
bestausgerüsteten Terrororganisationen der Welt, sogar mit eigener Luftwaffe.
Allerdings mehren sich die Zweifel, ob der Begriff Terrororganisation für die
Taliban noch angebracht ist.
Quelle: Reuters
Symbolbild: Soldaten der Afghanischen Nationalarmee
(ANA) bei einer gemeinsamen Militärübung mit deutschen Soldaten am Stadtrand
von Kabul am 16. Februar 2006. Die weit über 1.000 Panzer und Schützenpanzer
der ANA befinden sich jetzt in Händen der Taliban.
Im Unterschied zu den USA und anderen staatlichen
NATO-Militaristen, die trotz der vernichtenden Niederlage in Afghanistan ihre
imperialistische Politik zur Terrorisierung anderer Länder fortführen wollen,
gibt es vor allem in den letzten Wochen und Monaten überzeugende Hinweise, dass
die Einordnung der neuen Taliban als Terrororganisation nicht länger zutrifft.
Denn die neuen Taliban haben nicht nur in der Hauptstadt Kabul, sondern im
ganzen Land ohne nennenswerten Widerstand – weder von den bewaffneten Organen
der US/NATO-Marionetten noch von der Bevölkerung – die Macht übernommen.
Afghanistan: Desaster mit Kalkül
Die Taliban-Kämpfer zeigten sich sehr diszipliniert.
Die vom Westen beschworenen Massaker an Minderheiten oder Andersgläubigen
blieben bisher aus. Auch kam es zu keinen Plünderungen, vielmehr beschützten
die Taliban während des Machtwechsels die öffentlichen Gebäude und Museen vor
Plünderung durch Zivilisten. Welch ein Kontrast zur völkerrechtswidrigen
US-Eroberung der irakischen Hauptstadt Bagdad, in der unter den Augen untätiger
US-Soldaten die archäologischen Museen der Stadt in den ersten Tagen vom Mob
geplündert und unersetzbare Schätze gestohlen worden waren.
Den Taliban scheint es gelungen zu sein, sich von der
rein ethnischen Organisation aus religiös-fanatisierten, paschtunischen
Gotteskriegern von vor 25 Jahren, die von saudi-arabischen Wahhabis
und dem pakistanischen Geheimdienst Interservice Intelligence
(ISI) unterstützt und finanziert wurden, zu einer multiethnischen, nationalen
Befreiungsbewegung mit inklusivem Charakter zu wandeln. Andernfalls wäre der
Machtwechsel nicht so schnell und gewaltlos möglich gewesen.
Die Tatsache, dass die schiitische Regierung in Iran,
die mit den alten Taliban wegen derer vielen Massaker an der schiitischen
Minderheit in Zentralafghanistan auf bitterbösem Kriegsfuß gestanden hatte, nun
die neuen Taliban bereits vor dem offiziellen Machtwechsel in Kabul offiziell
unterstützt hat, lässt den Schluss zu, dass sich in der neuen Taliban-Führung
eine moderate und inklusive Richtung durchgesetzt hat. In die gleiche Richtung
deuten auch die positiven Einschätzungen der Resultate der intensiven
Gespräche, die eine hochrangige Taliban-Delegation in Russland und China
geführt hat, wobei es über eine enge Zusammenarbeit beim Wiederaufbau
Afghanistans unter einer Regierung der nationalen Einheit unter Führung der
Taliban ging.
In Vorbereitung auf das inzwischen unaufhaltsam
gewordene Jahrhundert ohne US-Einmischung in Zentralasien war die umfangreiche
Taliban-Delegation vor einigen Wochen in Moskau von Außenminister Sergei Lawrow
und in China von Außenminister Wang Yi empfangen worden. Von allen Seiten
wurden die Gespräche als sehr positiv bewertet. Vor diesem Hintergrund sorgt
sich nun Washington, was mit der Masse der teils hochmodernen US-Waffen in
Afghanistan geschieht.
Jürgen Todenhöfer
zu Afghanistan: "Katastrophale Niederlage des Westens"
Mit massiven Waffenlieferungen hatte das Pentagon vor
allem im letzten Jahr die Armee der US-Marionetten in der afghanischen
Regierung für den erwarteten Bürgerkrieg aufgerüstet. Den wollten nämlich die
US-Kriegsherren nach ihrem Abzug aus Afghanistan von Washington aus weiter
steuern. Zu diesem Zweck hatten US-, NATO- und Bundeswehrsoldaten das
afghanische Kanonenfutter ausgebildet.
Allerdings scheinen die einfachen afghanischen
Soldaten schlauer zu sein als ihre westlichen Kollegen. Denn die afghanischen
Soldaten waren fast ausnahmslos nicht bereit, für die korrupten US-Marionetten
gegen die Taliban zu kämpfen und zu sterben. Und so kam es, dass der neuen
Taliban-Regierung als Bonus eine der größten und schlagkräftigsten Armeen
Zentralasien mit vielen unversehrten Waffensystemen samt Luftwaffe in die Hände
gefallen ist.
In seinen Äußerungen zur Lage in Afghanistan vom 16.
August 2021 gab US-Präsident Joe Biden höchstpersönlich einen Einblick in das
ganze Ausmaß des ungewollten militärischen Geschenks an die Taliban.
"Wir haben eine afghanische Streitmacht von etwa
300.000 Mann ausgebildet und ausgerüstet – unglaublich gut ausgerüstet –, eine
Streitmacht, die größer ist als das Militär vieler unserer NATO-Verbündeten.
Wir gaben ihnen jedes Werkzeug, das sie brauchen konnten. Wir zahlten ihre
Gehälter und sorgten für die Aufrechterhaltung ihrer Luftwaffe."
Pentagon-Pressesprecher Admiral John Kirby sagte am
Freitag, dem 13. August, zwei Tage vor der blitzschnellen Übernahme der
Hauptstadt Kabul:
"Wir sind immer besorgt über US-Ausrüstung, die
in die Hände eines Gegners fallen könnte. (…) Welche Maßnahmen wir ergreifen könnten,
um dies zu verhindern, darüber werde ich heute nicht spekulieren."
Die Vereinigten Staaten haben seit 2001 insgesamt 2,25
Billionen US-Dollar (2.250.000.000.000) für ihren Krieg in Afghanistan
ausgegeben. Davon haben sie seit 2002 fast 83 Milliarden US-Dollar für die
Ausrüstung und Ausbildung der afghanischen Regierungsarmee ausgegeben. Darunter
fielen vor allem in den letzten Jahren fast zehn Milliarden US-Dollar für
militärische Flugzeuge und Fahrzeuge.
Im Juni 2021 verfügte die afghanische Luftwaffe über
etwas mehr als 200 Flugzeuge, aber laut dem US-Sonderinspektor für den
Wiederaufbau Afghanistans standen nur 167 für den Einsatz zur Verfügung. Die
meisten Flugzeuge operierten von zwei Stützpunkten aus, einer in Kabul und der
andere in Kandahar. Die Taliban übernahmen am Freitag
die Kontrolle über Kandahar, einschließlich des
Flugplatzes.
Taliban: Wir möchten weder interne
noch externe Feinde haben
Einen Tag später zeigten mehrere Twitter-Nachrichten
Bilder von hochmoderne UH-60-"Black Hawks"-Kampfhubschraubern und
anderen Hubschraubern der afghanischen Luftwaffe, die unbeschädigt in die Hand
der Taliban gefallen waren, die den Flughafen Kandahar
kampflos überrannt hatten.
Viele der Flugzeuge und Hubschrauber der afghanischen
Ex-Regierungsarmee sind bewaffnet, aber die gefährlichsten sind eine kleine
Flotte von etwas mehr als zwei Dutzend propellergetriebenen Kampfflugzeugen. Diese
A-29-Super-Tucanos sind hervorragend in gebirgigem Gelände zur Unterstützung
von Bodenkämpfen aus der Nähe geeignet und wurden speziell zu diesem Zweck an
die afghanischen Streitkräfte geliefert. Sie können u. a. auch lasergesteuerte
und andere Arten von Bomben abwerfen.
Die afghanische Regierung verfügt auch über 50 in den
USA hergestellte MD-530-Kampfhubschrauber, die mit Maschinengewehren und
Raketen bewaffnet sind. Darüber hinaus fliegt die afghanische Luftwaffe in
Russland hergestellte Mi-17- und Mi-24-Kampfhubschrauber sowie C-130-und
Cessna-Transportflugzeuge und eine kleine Flotte bewaffneter Cessnas.
Nun ist es eine Sache, funktionierende Flugzeuge zu
erobern, und eine andere, sie ohne angemessene Ausbildung zu fliegen. Ein
ausgebildeter Pilot könnte sie zwar fliegen, aber auch er müsste mit dem
gezielten Abwurf der Bomben und Abfeuern der Raketen erst vertraut werden. Und
die Techniker müssten wissen, wie die Flugzeuge gewartet und aufmunitioniert werden. Und da die Flugzeuge regelmäßig
gewartet werden müssen und auch Ersatzteile wie Spezialfilter gebraucht werden,
ist es unwahrscheinlich, dass die Taliban aus eigener Kraft die Flugzeuge und
Hubschrauber lange fliegen könnten, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, die
erfahrenen Piloten der ehemaligen Regierungsarmee in ihre neue Taliban-Armee zu
integrieren.
Dennoch wird in Washington inzwischen ganz öffentlich
darüber nachgedacht, die Flugzeuge- und Hubschrauber-Beute der Taliban sowie
die Militärflugplätze mit den Reparaturhangars durch flächendeckende
Bombardierung zu zerstören. Denn die Washingtoner Falken befürchten, dass die
Taliban technische Hilfe von Iran, Russland, China oder Pakistan bekommen
könnten, die zugleich die in den Flugzeugen installierte US-Kommunikations-,
Zielerfassungs- und eventuell auch Kodierungstechnik studieren könnten.
Naim Wardak: Die Taliban wollen
aufbauen – wie könnte ich dagegen sein?
Angeführt von US-Senator Marco Rubio (Republikaner für
Florida) haben am 18. August 24 weitere Senatoren (also ein Viertel des
US-Senats in Washington) einen Brief an Pentagon-Chef, Ex-General und
Ex-Rüstungslobbyist Lloyd Austin gerichtet, in dem eine vollständige
Darstellung der in Afghanistan zurückgelassenen US-Militärausrüstung gefordert
wird, die in die Hände der Taliban gefallen ist. Hier folgt eine Übersetzung
der ersten beiden Absätze des Briefes.
"Sehr geehrter Minister Austin,
wir schreiben in großer Besorgnis über den Status der
US-Militärausrüstung, die in Afghanistan als Folge unseres schlecht
ausgeführten Rückzugs aus dem Land zurückgelassen wurde. Als wir die Bilder aus
Afghanistan sahen, als die Taliban das Land zurückeroberten, waren wir
entsetzt, US-Ausrüstung – einschließlich UH-60 Black Hawks – in den Händen der
Taliban zu sehen.
Es ist gewissenlos, dass Hightech-Militärausrüstung,
die von US-Steuerzahlern bezahlt wird, in die Hände der Taliban und ihrer
terroristischen Verbündeten gefallen ist. Die Sicherung von US-Vermögenswerten
hätte vor der Ankündigung des Rückzugs aus Afghanistan zu den obersten
Prioritäten des US-Verteidigungsministeriums gehören sollen. Wir bitten daher
um detaillierte Informationen zu folgenden Themen (...)."
Es folgen sieben Punkte, von denen die beiden letzten
besonders aufschlussreich sind:
"6. Wir fordern eine Bewertung der
Wahrscheinlichkeit, dass die Taliban versuchen werden, mit Russland, Pakistan,
Iran oder der Volksrepublik China zusammenzuarbeiten, um Ausbildung, Treibstoff
oder Infrastruktur zu erhalten, die erforderlich sind, um die Ausrüstung zu nutzen,
die sie nicht selbst nutzen können; und
7. Wir wollen Aufschluss über alle geplanten oder
laufenden Bemühungen der Regierung, Ausrüstung zurückzuerobern oder zu
zerstören, die in Afghanistan verblieben ist und Gefahr läuft, von
terroristischen Organisationen verwendet zu werden."
Die Forderungen der 25 Senatoren an Pentagon-Chef
Austin sind angesichts der Masse der US-gelieferten Rüstungsgüter nicht im
Entferntesten zu erfüllen, wie bereits eine grobe Übersicht über die
wichtigsten Posten zeigt:
• ca. eine Mio. Handfeuerwaffen
• mehrere Milliarden Schuss Munition
• 600 Schützenpanzer, Typ M1117
• geschätzte 1.000 Kampf- und Schützenpanzer
sowjetischer Produktion (u.a. T-62 und BMP-1)
• rund 600 leichte und schwere Artilleriegeschütze
sowjetischer und US-amerikanischer Produktion
• 8.500 Militär-Geländewagen (Humvees)
• 150 geschützte Hightech-Fahrzeuge MaxxPro
• 100.000 Geländewagen Toyota Hilux
und Ford Ranger
• 68 Aufklärungs- und Kampfhubschrauber Typ MD 500
• 19 Bodenkampfflugzeuge Typ A-29
• 16 UH-60-Black-Hawk-Kampfhubschrauber
• vier Herkules-C-130-Transportflugzeuge
• 100 Angriffshubschrauber vom Typ Mi17 und Mi-24
• dazu mehrere Drohnen, Typ Scan Eagle
Praktischerweise haben die USA und auch Deutschland
300.000 afghanische Soldaten ausgebildet, die das Mordwerkzeug auch bedienen
können. Die Taliban verfügen laut Präsident Biden jetzt über ein besseres
Waffenarsenal als mancher NATO-Staat. Das ist das "grandiose"
Ergebnis von 20 Jahren "humanitärem" militärischem Engagement der
westlichen "Wertegemeinschaft" in Afghanistan.
Eines scheint jetzt schon ziemlich klar zu sein: Der
"Wertewesten" wird in der Zukunft Afghanistans höchstens noch eine
marginale Rolle spielen. Wenn die Taliban klug sind, nehmen sie das
Hilfsangebot Irans, Russlands und Chinas zum Wiederaufbau an. Die meisten
zentralasiatischen direkten Nachbarländer Afghanistans werden mit Russland und
China an einem Strang ziehen. Und auch über Pakistan wird der Westen keinen
Einfluss mehr auf Afghanistan haben, den Pakistans Interessen sind zunehmend
auf die Zusammenarbeit mit Peking im Rahmen der Neuen Seidenstraße orientiert.
Interview: Militärisches und politisches
Scheitern von USA, EU und NATO
Allerdings werden die bevorstehenden politischen,
wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umwälzungen in Afghanistan nicht ohne
Probleme und Reibungsverluste vonstattengehen. Es wird Arbeitslosigkeit geben,
allein schon deshalb, weil die Taliban-Regierung keine 300.000-Mann-Berufsarmee
unterhalten kann und der wirtschaftliche Umbau und die Schaffung neuer
Arbeitsplätze nicht schnell genug geht. Wenn wir jedoch verhindern wollen, dass
daraus ein neuer Flüchtlingsstrom nach Deutschland entsteht, sollten wir nicht
darauf bauen, dass die Migration von der Türkei aufgefangen wird.
CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet scheint das
begriffen zu haben.
Der Unterschied zum größten deutschen Außenminister
aller Zeiten Heiko Maas von der SPD könnte deutlicher nicht sein. Wie eine
beleidigte Leberwurst will Maas keinen Cent mehr für Afghanistan lockermachen,
weil sich die Regierungsarmee und die Taliban geweigert haben, sich gegenseitig
für den Westen zu massakrieren. Laschet dagegen will
mit den Taliban reden und hoffentlich auch beim Aufbau ehrlich helfen. Denn
jeder in Afghanistan mit deutscher Hilfe geschaffener produktiver Arbeitsplatz
bedeutet einen potenziellen Migranten weniger auf dem Weg nach Deutschland.