Deutsche WirtschaftsNachrichten
31.5.233
Afghanistan tritt Chinas
Seidenstraße bei
Afghanistan wird Teil der Seidenstraße. Das krisengeschüttelte Land birgt
große wirtschaftliche und geostrategische Potenziale, aber auch enorme
Probleme.
Nicolas Dvorak
Afghanistan hat sich dem chinesischen Infrastrukturprojekt „Ein Gürtel, eine
Straße“ („Neue Seidenstraße“) angeschlossen. Wie Silk Road Briefing berichtet, wurde der Beitritt am Sonntag
in Pakistans Hauptstadt Islamabad vom pakistanischen Außenministerium
bekanntgegeben, nachdem sich Außenminister Bilawal
Bhutto Zardari am Vortag mit seinem chinesischen
Amtskollegen Qin Gang und dem Unterhändler der Taliban, Amir Khan Muttaqi, beraten hatte.
In den Monaten zuvor hatten sich chinesische, pakistanische sowie afghanische
Spitzenbeamte in mehreren Gesprächsrunden für einen Beitritt ausgesprochen.
Die künftig im Rahmen der „Neuen Seidenstraße“ für Afghanistan geplanten
Infrastrukturprojekte werden als Verlängerung der chinesisch-pakistanischen
Wirtschaftszusammenarbeit verstanden, die unter dem Dach des China-Pakistan Economic Corridor (CPEC) firmiert
und mit einem Gesamtumfang von geschätzt 60 Milliarden Dollar das größte
bilaterale Kooperationsprojekt der Seidenstraße darstellt.
„Die beiden Seiten stimmen darin überein, ihre humanitäre und wirtschaftliche
Hilfe für das afghanische Volk fortzusetzen und die Entwicklungszusammenarbeit
mit Afghanistan zu verstärken – auch durch eine Erweiterung des CPEC nach
Afghanistan“, zitiert Al Arabiya aus einer
Pressemitteilung.
Afghanistans Annäherung an das chinesische Infrastruktur-Projekt geht auf das
Jahr 2017 zurück, als eine Delegation der damaligen Regierung eine
entsprechende Konferenz in Peking besucht hatte.
Große Potenziale…
Nach der Machtübernahme der Taliban im Sommer 2021 nahmen chinesische,
russische und iranische Beamte halboffizielle Kontakte zu den neuen Machthabern
auf. China verstärkt seitdem auf Wunsch der Regierung in Kabul die
Wirtschaftskooperation mit Afghanistan.
Im Januar schließlich verhandelten beide Seiten das erste gemeinsame
Rohstoff-Projekt, im Zuge dessen die Xinjiang Central Asia
Petroleum and Gas Company die Lizenz zur Ölförderung
entlang des Flusses Amu Darja erhielt. Der Vertrag
ist auf 25 Jahre angelegt, hat einen Umfang von mehr als 500 Millionen
US-Dollar und sichert den Taliban einen Anteil an den Operationen und
Einkommensströmen von 20 Prozent.
Afghanistan verfügt über einen bedeutenden Reichtum an Rohstoffen, von denen
viele auch strategische Bedeutung für die Weltwirtschaft und sogenannte
Zukunftstechnologien haben. Signifikant sind Vorkommen von Kupfer, Eisen,
Marmor, Kohle, Lithium, Kobalt, Gold, Chromeisen, Schwefel, Salz, Erdöl,
Erdgas, Blei sowie edlen und halbedlen Steinen wie Rubin, Smaragd und Lapis Lazuli.
Die strategische Bedeutung Afghanistans liegt in dessen geografischer Lage im
südlichen Zentralasien. Das Territorium grenzt im Westen an den Iran, im Norden
an die zentralasiatischen Staaten Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan,
im Nordosten entlang eines kleinen Grenzstreifens an China und im Osten und
Süden an Pakistan und fungiert deshalb als Übergangsbereich zwischen der
iranischen Welt, der zentralasiatischen Großregion und dem indischen
Subkontinent.
Zudem liegt Afghanistan – in gesamtasiatischer Perspektive betrachtet – zentral
zwischen den Großmächten China im Osten, Russland im Norden und Iran im Westen.
Derzeit werden mehrere überregionale Infrastrukturprojekte mit Bezug zu
Afghanistan erwogen, wie beispielsweise die Transafghanische Eisenbahn und ein
Transportkorridor, welcher China mit Usbekistan verbinden soll.
Auf der Transafghanischen Eisenbahnlinie könnten Waren aus Kasachstan über
Usbekistan und Afghanistan an die pakistanischen Häfen am Indischen Ozean
transportiert werden.
Der chinesisch-usbekische Transportkorridor hingegen würde in Ost-West-Richtung
verlaufen und das chinesische Eisenbahnnetz über die zentralasiatischen Staaten
an den Nahen Osten anbinden. Beide Projekte sind derzeit aber noch nicht über
den Status von Planungen und Machbarkeitsstudien herausgekommen.
…und große Probleme
Den geografischen und rohstofflichen Potenzialen Afghanistans stehen große
innenpolitische Schwierigkeiten gegenüber. Das Land befindet sich seit
Jahrzehnten faktisch in einem Kriegszustand. Dem Einmarsch und der Präsenz der
Sowjetunion folgten interne Kämpfe, aus denen die Taliban Mitte der 1990er
Jahre siegreich hervorgingen, ehe diese wiederum ab dem Jahr 2001 von den
Amerikanern und ihren Verbündeten von der Macht vertrieben wurden.
Nach dem chaotischen Abzug der westlichen Kräfte im Frühjahr und Sommer 2021
übernahmen die Taliban zwar wieder die Kontrolle über nahezu alle Teile des
Landes. Noch immer aber sind Zellen des Islamischen Staats und uighurischer
Extremisten aktiv.
Die Bevölkerung Afghanistans gehört inzwischen wieder zu den ärmsten der Welt
und die Beschlagnahmung der Devisen- und Goldreserven der afghanischen
Zentralbank in Höhe von etwa 9 Milliarden US-Dollar durch die amerikanische
Regierung führte zu akuten Zahlungsschwierigkeiten, welche mithilfe internationaler
Hilfsgelder ein wenig abgemildert werden können. Die USA sind dabei der
wichtigste Geldgeber: etwa 2,1 Milliarden Dollar an Hilfsgeldern sollen seit
dem Abzug der Armee 2021 geflossen sein.
Die UN schätzte jüngst, dass im laufenden Jahr rund 4,6 Milliarden Dollar an
Hilfen notwendig sein werden, um die rund zwei Drittel der 40 Millionen
Afghanen zu unterstützen, die in extremer Armut leben.
Die unruhige Sicherheitslage stellt zudem ein Risiko für die
Seidenstraßen-Pläne der Taliban-Regierung dar. So attackierten IS-Kämpfer noch
im Dezember ein Hotel in Kabul, das in der Vergangenheit von chinesischen
Geschäftsleuten und Diplomaten genutzt wurde.
„Chinas Außenpolitik tendiert dazu, wirtschaftlichen Interessen den Vorzug zu
geben, ohne die Innenpolitik zu unterminieren. Vor diesem Hintergrund scheut
China vor unilateralen Projekten in Afghanistan ohne die Unterstützung
Pakistans zurück. Der Transit durch Afghanistan nach Pakistan ist jedoch ins
Stocken geraten, seitdem ein bilaterales Abkommen zum Transit und zum
Handelsverkehr aufgrund der finanziellen und territorialen Streitigkeiten
mehrerer regional bedeutender Stämme auf Eis gelegt wurde. Peking wird alle
Hände voll zu tun haben, einer Region fruchtbare Verhandlungen zu bringen, die
seit Langem an gewalttätige Argumente und Krieg gewöhnt ist“, schreibt Chris Devonshire-Ellis, der Herausgeber des Silk Road Briefing.
Afghanistans Beitrag zum Seidenstraßenprojekt erscheint deshalb zum
gegenwärtigen Zeitpunkt aus gesehen unklar. Gelingt es der Kabuler Regierung,
nachhaltig für Ordnung und gesellschaftliche Stabilität im Land zu sorgen, kann
sich Afghanistan angesichts seines Rohstoffreichtums und wegen seiner
strategischen Lage als Glücksfall erweisen. Davon würden die Chinesen politisch
und wirtschaftlich ebenso profitieren wie die Afghanen, denen sich in Form der
Infrastrukturprojekte und eines daraufhin möglicherweise ausgebauten
Regionalhandels wirtschaftliche Perspektiven eröffnen.
Möglich ist aber auch, dass die latent bestehenden Konflikte zwischen den
ethnischen Volksteilen, die große Armut und Perspektivlosigkeit im Land, die
sehr schlecht ausgebaute Infrastruktur sowie die Aktivitäten extremistischer
Milizen Afghanistan zu einem Bremsklotz für die wirtschaftliche Integration
Zentralasiens im Sinne der Seidenstraße machen.